Koordinaten zum Proviant

In der Rückschau schien es Kampmann, als sei ihm die Hitze des Südens in Kroatien in die Eingeweide gefahren. Er fühlte sich, als koche sein Blut. Ganz zu schweigen von seinem Hirn. Was war das alles anstrengend! «Bin ich wirklich so verrückt?» Konnte er glauben, was er sah? Und dann ging ihm durch den Kopf, dass er es zumindest einmal in Erwägung gezogen haben sollte: dass diese Zahlen a. nicht das Resultat von Geschwindigkeitsmessungen einer Radareinrichtung am Rande der D 8 waren und b. er nun einmal nicht verrückt war, als er auf den Trichter kam, dass es sich vielmehr um eine Botschaft handelte. Er schaute. Seine Augen konnten dieses orange Licht kaum fixieren. Die Zahlen blieben gleich. Probe: Ein Lkw kam aus Trsteno angerauscht. Dieses Ungetüm mit drei Achsen würde nun durch Mali Zaton donnern und den Weg nehmen, den er genommen hätte, wenn nicht dieses, ja, was immer es war, passiert wäre. Jetzt sah er nur die 590 hinter seiner Netzhaut irgendwo da oben, wo auch sein Verstand sitzen sollte. Und der Rest davon sagte ihm, dass das nicht die Geschwindigkeit sei, mit der der schmutzigweiße Kipplader an ihm vorbei durch Brsečine donnerte. «So schön das hier auch ist, aber diese Straße ist schlimm», wuchs Kampmanns Gedankenfaden in eine bislang noch nicht umschlungene Sphäre. Und ihm fiel ein, dass er in den 80er-Jahren auf verschlungenen Straßen von Genua aus in Richtung Monte Carlo über Ventimiglia und Menton auf der SS 1 gefahren war. LPs von Everything But The Girl, Style Council und New Order spulte das Tape Deck in dem cremeweißen Audi 100-Coupe seines besten Freunds ab. Die Scheiben heruntergekurbelt, der Wind in den weiß gebleichten Haaren, Postpunk im Kopf, und wir rauchten eine nach der anderen. Jetzt fühlte er sich wie ein fossiliertes Klischee an den zu teuer gewordenen Wurzeln einer verlorenen späten Jugend zwischen Schule und Studium, und er bedauerte den Verlust einer Virilität, die er sich in der Rückschau selbst andichtete. Und als er seine historische Unehrlichkeit spürte, kristallin wie das eiskalte Flageolett auf seiner Lakewood D-35 Custom, da wurde ihm bewusst, dass hier etwas mehr auf dem Spiel stand, als das simple Schönsein in längst vergangenen Tagen. Und also konzentrierte er sich wieder auf die Zahlen und kam doch nicht gleich auf das Naheliegendste. Da war der… – … und schon wieder hielt er inne. Denn die Typenbezeichnung «Scammell S 24», so hieß doch der Truck von Gill, ging ihm durch den Kopf. Dass ihn das nicht verließ… Aber was wunderte es ihn. Der Kopf ist nur von außen rund. Im Innern ist ein raum-, ort- und zeitloses Mycel aus Erinnerungen, Sinneseindrücken und abgeleiteten Wahrnehmungen inklusive dessen, was immer so herumspuken sollte. Und was sich da an Hyphen verknüpfen lässt, hat die Chance, eines Tages verknüpft zu werden. Ob das dann Sinn ergibt, sei dahin gestellt, denn was ist schon Sinn? Es ist schön, sich in diesem Mäander zu verlieren, in diese Knotenpunkte zu verstricken und einzustricken. Und unwillkürlich stiegen die Tränen. Reiß’ dich zusammen, Mann. Und doch: Jeder sollte von einem gewissen Alter an einen Lastwagen besitzen, sprach sich Kampmann hedonistisch vor und machte sich im selben Atemzug über sich lustig, in dem er an Psychoanalyse dachte.

Also Ruhe da oben. 42.87590 und 18.51140. Was ist das? So setzte es sich zusammen, was über die Anzeige streunte. Kampmann zückte seinen Quattrocorder1 und gab die Zahlen ein. Lange brauchte er nicht zu warten. Nichts kam dabei heraus. Irgendein grüner Fleck im Hinterland. Bosnien. Per Spracheingabe fragte Kampmann den Apparat, was denn Sinn machen würde. Jetzt dauerte es, und auf der Anzeigetafel erschienen andere Zahlen. Wer auch immer diesen Blödsinn mit ihm anstellte: Es war nicht nur anstrengend, sondern auch unfreundlich, ihn so aufs Glatteis zu führen. «Ich habe wohl erst einmal auf den Trichter kommen müssen.» Murmelte er vor sich hin. Aber wie konnte ein Beobachter herausbekommen, dass er hier saß und das tat, was er tat: entziffern und Kaffee trinken. Natürlich schaute er sich nicht um. Er fütterte den Quattrocorder mit den neuen Koordinaten: 42.846599621240365 und 17.981801724060094. Und siehe, es ward ein Ort: Špilja Vjetrenica. «Das soll wohl das nächste Ziel sein», dachte sich Kampmann und studierte die Details. Es waren 27 Kilometer vom Standort aus. Das müsste bei strammem Schritt in fünf bis sechs Stunden zu schaffen sein. Allerdings: Er hatte weder Rucksack noch passendes Schuhwerk, und außerdem war er gerade alles andere als auf der Höhe. Dennoch buchte er eine Tour ein, die ihm vernünftig erschien. So, das wäre das. Wie geht es nun weiter? Er brauchte Proviant, Ausrüstung, Wasser und Schuhe. Mit den Doc Martens würde es natürlich auch gehen. Besser wären leichte Trekkingtreter. An den Höhenmetern wird es nicht scheitern. Das Profil ist nicht wild. Allein an normalen Straßen wären 17 Kilometer zu überwinden. Kein Akt. Ach, dachte er sich, ich kaufe hier mein Zeugs und frage, ob die eine Tasche haben. So war es dann auch. Er bekam alles, zahlte mit dem Quattrocorder und fühlte sich schon wieder frisch und mit frohem Mut ausgestattet. «Eigentlich ganz gut», dachte er sich, «dass ich gerade nicht bei der Sitzung bin und mit den Leuten, etwa Sanct John, über die Probleme der Welt diskutieren muss. Ich liebe es hier draußen, und ich liebe es, zu wandern.» Aber ihm fehlte natürlich seine Hündin. Wenn es aufgrund der speziellen Lage erforderlich war, die RDS ihn rief, dann musste er sich nicht nur von seiner Familie, sondern auch von Luna verabschieden. Wobei: Die gehört doch zur Familie. Na ja, geneigte Leserin, Sie wissen schon, wie das gemeint ist. Man kann sich ja nicht immer um den besten Ausdruck bemühen. When too perfekt, Liebe Gott böse, meinte einmal ein kluger Mensch. Ich stimme ihm vollkommen zu.

Also gut, nun hatte Kampmann genügend Flüssigkeit, er hatte den Proviant, den er sich wünschte, er hatte einen Stoffbeutel, in dessen Trageschlaufen er sich wie in einen Rucksack heineingewunden hatte, und derart equipiert, machte er sich auf den Weg. Es wurde nicht gerade Zeit. Aber die Erinnerung an die Dauer seiner «Sitzung» auf der Leitplanke verschwamm zusehends mit der Zeit, die die Sonne benötigte, um aus dem Osten gen Himmel zu steigen. Nun wandte er sich gen Ortsmitte, dann ging es leicht nach Norden, um dann gen Osten zu wandern. Der Weg stieg stetig, aber nicht unangenehm an. Seine Stetson-Kappe schützte vor der Sonne. Und abgesehen von der löchrigen Hose machte er, das musste er sich doch einmal eingestehen, nicht den schlechtesten Eindruck. Im Grunde sah er auch nicht anders aus, als die Touristen, die mir ihrer Funktionskleidung lediglich in Küstennähe blieben. Ihn trieb es immer schon ins Landesinnere. Jetzt kamen sie nämlich, diese wunderschönen Eindrücke. Und all’ das entschädigte ihn für die letzten gut 24 Stunden. Wie lange war es jetzt her, dass er losgefahren war? Und außerdem ließ es ihn nicht los, was mit dem Kleinlastwagen passiert war. Möglicherweise war er in eine andere Dimension geschubst worden. Das wiederum würde das Verschwinden, aber auch die seltsame Flugbahn von ihm selbst erklären. Er würde darüber nachdenken, wenn er auf der langen Strecke ist. Nun konzentrierte er sich auf den Verlauf des Wegs, um sich nicht schon zu Beginn der Wanderung zu verlaufen. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Jóhann Jóhannsson, Yair Elazar Glotman, Last And First Men, Deutsche Grammophon, 483 7415, 27. März 2020


1  Der Quattrocorder (oder Quadkorder) ist ein Handgerät, das der Analyse der räumlichen und zeitlichen Umgebung des Bedieners dient. Durch die zweite Analyseebene (Zeit) unterscheidet es sich maßgeblich von seinem Vorläufer, dem Tricorder. Der Q. misst je nach Variante verschiedenste physikalische, geografische, medizinische sowie temporale Größen. Mit einem Quattrocorder lässt sich nicht nur die genaue Position des Trägers feststellen, sondern auch, ob sich Personen («Lebenszeichen») in der näheren Umgebung befinden. Das Gerät funktioniert sowohl satellitengestützt als auch im Mesh oder standalone. Laut Herstellerangaben sind im Q. zirka 2500 verschiedene Sensoren verbaut. Das Gerät ist in zwei Varianten erhältlich: der wissenschaftliche Q. für wissenschaftlich orientierte Zeitreisende und normale Anwender sowie der medizinische Q. für Ärzte und medizinisches Personal. Genaue medizinische Diagnose und biologische Messungen sind mit dem Q. eine Leichtigkeit. Mit dem wissenschaftlichen Q. lassen sich neben physikalischen Messungen ferner Umweltdaten bestimmen. Das Anmessen von Lebewesen und die Unterstützung von Erste-Hilfe-Maßnahmen sind dabei wesentliche Eigenschaften des Geräts. Beide Bauarten berücksichtigen in der jeweiligen Domäne Faktoren der Zeit. Somit kann ein Arzt den genauen Zeitpunkt einer Infektion bestimmen. Gerade bei willkürlich auftauchenden Zeitsprüngen, üblich in Teilbereichen der Milchstraße, dient der Q. dazu, genaue Bestimmungen vorzunehmen, um Temponauten sicher an ihr Ziel zu führen. Der Q. wurde im Auftrag der RDS von der Qloop Research GmbH zusammen mit dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und dem IT-Sicherheitscluster e. V. mit Fördermitteln aus dem Programm «Mobile sensorgesteuerte und datengetriebene Umwelt» bis zu einem Technology Readiness Level (TRL) 4 entwickelt und gehört seit der Ausentwicklung durch Qloop zur Standardausrüstung des RDS-Expeditionskorps.