Der Odem der Steine

Also marschierte er los. Immer noch war es vergleichsweise ruhig auf der D 8 wie an einem Feiertag. Er querte die Straße und ging auf den Ortskern zu, der etwas oberhalb dieser Hauptroute des kroatischen Tourismus lag. Mit der Vorstellung vor dem geistigen Auge, etwas Neues in Erfahrung zu bringen – selbst wenn er nicht wusste, was es wohl sei –, fiel ihm das Marschieren leichter. Aber fünf Stunden? Warum nahm er sich kein Taxi? Warum kümmmerte er sich nicht um eine Busverbindung? Er musste es ja wissen, sagte er sich. Sein Problem, sagte es in ihm. Aber er kennt sich ja. Erstens hat er seinen dicken Kopf, den er vor den Wänden dieser Welt schon so häufig verbeult hat. Und zweitens gab es hier keine Busverbindungen nach Bosnien, das Taxi war nicht im Budget, per Anhalter fuhr er aus Prinzip nicht, und ein Fahrrad zu klauen, verbot sich von selbst. Außerdem liebte es Kampmann, mit seinem Körper und durch seinen Körper Bewegung zu sein. Und er liebte diese verkarstete Landschaft der dinarischen Alpen. Mit jedem Meter, den er sich von der Ortschaft entfernte, wurde die Vegetation spärlicher, selbst wenn es nicht höher als 950 Meter über NN tragen würde. Die Feigenbäume wichen krüppeligen Kiefern, Lorbeer, wildem Oleander und Hartlaubgewächsen, anderem feindlich-stacheligem Gestrüpp. Damit hatte er ja schon Bekanntschaft gemacht. Und dann ging es bergauf. Unwillkürlich fiel er in seinen leichten Laufschritt. Sicher, die Stiefel waren nicht geeignet, aber das war ihm gleichgültig. Er musste sich laufend bewegen, «Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft», ging ihm die monumentaleste Feststellung über das Wesen der Menschen, ausgeprochen von der «Lokomotive» Emil Zatopek, durch den Kopf. Und dann stellte sein Hirn die Sprachebene stumm, und er dachte nicht weiter nach. Es lief, er lief. Und so wurden aus fünf Stunden drei. Denn über die meisten Straßen lief es sich hinreichend angenehm. Nicht wie neulich, als er, allerdings mit tauglichem Laufzeug equipiert, irgendwann im Hinterland am mittleren Rand der 496 Meter hohen Erhebung von Gradina stand und beinahe nicht mehr weiterkam, da der Weg vollständig überwuchert war. Das hatte er geliebt und genossen. In der Hitze von rund 35 Grad bewältigte er diesen nicht vorhandenen Pfad und schaffte es, glücklich ans Ziel zu kommen. Kurz zuvor belohnte ihn ein weiter Ausblick über die Bucht seines Dorfes und das Mittelmeer. Deshalb war es heute eher ein Spazierlauf, wenn auch unter erschwerten Bedingungen wegen falscher Kleidung.

Kampmann verwunderte es, dass er nirgends kontrolliert worden war. Die Grenze schien also eher so grün wie die Vegation zu sein. Da war dieses Stück Weg, das nicht asphaltiert gewesen war. Die groben Kalksteine reihten sich unregelmäßig aneinander, als hätten besoffene Trolle gewürfelt. Auf diesem Pfad hatte er sich besonders wohlgefühlt. Es forderte ihn, denn das stechende Kraut, die Verwachsungen liebte er. Und dann schien es höher zu gehen und immer spärlicher und ärmlicher zu werden. Die Wege wurden immer noch schwerer begehbar. Dann wieder einfacher Asphalt. Das alles in stetem Wechsel, und die Sonne steig. Die Erhebungen auf der gegenüberliegenden Seite zeigten ihm das abstrakte Bild eines Linienspiels aus grünen und weißen Strichen, die entfernt an die zitternde Schrift von parallel aufzeichnenden Seismografen erinnerte. Und als er wieder eine Straße unter den Füßen hatte, reihte sich ein Schlagloch an das nächste. Er war nun schon zweieinhalb Stunden unterwegs. Hinter einer Bauernschaft, die aus zwei ärmlichen, halb zerfallenen Wohngebäuden und drei Ställen aus Holz bestand sowie auf der gegenüberliegenden Seite des Wegs von einer massigen Mauer aus eher wenig zu erwartendem, maschinell geglättetem, feinsäuberlich geschlagenem Stein, die einem unverständlichen Zweck diente, begrenzt wurde, marschierte er plötzlich durch Schafherde – Blöken, stierende Augen, nervöses Fortgaloppeln –, und dann stand er auch noch inmitten einer Herde aus gut zwanzig verschiedenfarbigen Pferden. «Abenteuerlich»; er tätschelte eins dieser schönen, sportlichschlanken Huftiere in Schwarz, und schon wurde es kitschig. Ein hellbeiges Fohlen mit Blesse. «Mir kommen die Tränen», dachte sich der Wanderer, lachte über sich und seine sentimentalen Anwandlungen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, hörte dann einen Hund bellen und setzte sich für eine Brotzeit weniger Meter nach den Häusern an den Straßenrand auf einen Steinquader, sehr eben behauen, der direkt vor besagter, scheinbar nutzloser Mauer lag, welche sich über die Ortsgrenze hinausstreckte. Die Straße war mit Pferdemist gesprenkelt. Ein fragil anmutendes Gerüst aus Stahl stützte die drei Überlandleitungen für Elektrizität. Nichts ingenieursmäßig Wildes – nur fünf Meter hoch, diente die Installation sicher der Versorgung dieses kleinen Örtchens. Kampmann ließ es sich schmecken, und wohlig genießend, trank er einen großen Schluck aus der Flasche Mineralwasser, die er von der freundlichen Bedienung in Brsečine geschenkt bekommen hatte.

Er zückte seinen Quattrocorder und schaute auf die Daten. Keine telepathisch Begabten in der Nähe, keine seismischen Auffälligkeiten, keine Anzeichen temporaler Anomalien. Ein rundum schönes Fleckchen Erde, auf dem man ihn in Ruhe ließ. Und seine Stiefel trugen ihn ohne Fehl und Tadel. Keine Blase war zu verzeichnen. Sicher, er schwitzte in den Kähnen, aber er fühlte sich trotzdem über die Maßen wohl in seiner Haut. Es ist immer dieses besondere Wegtauchen der Wirklichkeit nach oder während einer starken körperlichen Beanspruchung. Sollten ihn doch alle als verrückt bezeichnen. Er verzichtete liebend gern auf ein Automobil, zumal er hier über längere Zeit ungestört war und seinen Gedanken nachhängen konnte. Jetzt trennte er sich kurz aus dem Verbund mit der Wirklichkeit und bestieg seinen imaginären Ballon, um die Landschaft und das Ziel ins Visier zu nehmen. Dabei fiel ihm auf, dass von der Grenze ein Polizeiwagen mit Blaulicht, Sirenengeheul und hoher Geschwindigkeit auf seiner Straße und in seine Richtung heranjagte. «Na, das kann ja schwerlich mir gelten», dachte er, «aber sicher ist sicher.» Also machte er sich auf den Weg ins Gebüsch, kroch, nachdem er wieder in seinen Körper zurückgekehrt war, den Abhang hinter der Mauer hinauf und fand ein halbwegs sicheres Versteck im Dickicht zirka 50 Meter oberhalb der Straße, sodass er alles in Ruhe überschauen und beobachten konnte. Der Polizeiwagen hielt vor der Haustür der Bauernkate. Ein junger bärtiger, Beamter mit einem stieren Blick und mit wenig vertrauenserweckender, aggressiver Körperhaltung hämmerte drauf los, bis eine, ja, man muss das wohl sagen, Schönheit vor die Tür trat. Sie mochte mit ihren Anfang Dreißig wohl so alt wie der Polizist sein. «Wie kann man hier leben, was macht man hier den lieben langen Tag? Es muss paradiesisch sein. Muss es?», fragte Kampmann sich. Der so grobschlächtig anmutende wie Respekt gebietende Kerl wiederum kniete unversehends nieder und gab den Demütigen. Was das schon wieder sollte? Kampmann wandte sich ab. Der Martinshornauftritt hatte jedenfalls nicht ihm gegolten, und der Privatheit der Szene würdigend, wollte er dem sich vielleicht anbahnenden Schauspiel nicht beiwohnen, und außerdem sollte sein Ziel nicht aus den Augen verloren werden. Genug ausgeruht, genug gesehen. Keine Zeit, keine Muße, keine Neugier für dörfliche Dramen oder patriarchalische Narreteien. «Weiter, immer weiter führt der Weg.» So schlängelte sich die Straße durch diese Landschaft als kalkigem, von Meerwinden und Sonne geformten Mittelgebirge, die einige als monoton charakterisieren würden. Kampmann jedoch hatte einen eigenen Zugriff. Er las dieses Auf und Ab, den Rhythmus von Stein und Vegetation wie die Partitur eines Komponisten, und während er wieder in seinen herzschonenden Trab verfiel, hörte er die Musik dieser Szenerie. Das dauerte noch ein ganzes Weilchen, bis ihm der Quattrocorder mitteilte, dass er in wenigen Minuten nach dem letzen Gipfel namens Golubinac an sein Ziel kommen würde.

Ein Schriftzeichen der Madaijk?
Ein Schriftzeichen der Madaijk? Abstrahiert von der Landkarte, die er auf seinem Quattrocorder zu sehen bekam. Grafik: Familie Kampmann

Noch sah er nicht viel, bis er nach einer letzten Kehre in Zavala, oder das, was es heißen sollte, stand. Er sah zwei Wegweiser, die in sechs Richtungen zeigten, einen verlassen anmutenden Parkplatz, auf dem ein schrottreifer Peugeot aus den später 90er-Jahren vor sich hin rostete. Der Weg spleißte sich hier verwirrend. Eine Möglichkeit führte steil ansteigend zu einem Kloster, auf das eine hinreißend übertypografierte Schautafel mit verblichenen Fotos und in arabischen und kyrillischen Lettern, nicht aber in englischer Sprache hinwies. Auf der Karte seines Quattrocorders sah Kampmann das Gewirr von Straßen und Wegen. Er ließ sich nur diese, schwarz eingefärbt, ohne Satellitenbilder anzeigen. «Könnte ein Symbol aus der Protoschrift eines der Madaijk-Völker sein.» Er nahm sich vor, es bei Gelegenheit zu überprüfen. Landschaft lesen. Sie wurde schon zu prähistorischen Zeiten lesbar gemacht. Das wusste er seit langem. Am Ende weckte ihn ein für dieses Setting überdimensioniert anmutendes Klohäuschen, im Aufbau wie ein Pseudoperipteros, bloß dass die Blendsäulen fehlten und an beiden Seiten das Vordach von schlanken, funktionalen, quadratischen Pfeilern getragen wurde. Man las dort «WC» in roter Sprühfarbe an den beiden Seiten zum Eingang. Und schon von Weitem konnte man sich im Spiegel bewundern, der die Zugänge links und rechts zu den geschlechterspezifisch markierten Aborten mittig voneinander trennte. Darunter ein Waschbecken. Dort säuberte sich Kampmann grob, das Wasser floss angenehm frisch, er beugte den Nacken und ließ sich herunterkühlen. Das waren doch wirklich sehr anstrengende Kilometer gewesen. Die Sonne stand jetzt knapp über ihrem Zenit. Wie immer nach solch’ langen Strecken hatte er keinen Appetit, zumal die Pause noch nicht lang her war. Also marschierte er die 70 Meter zurück zur Weggabelung und blickte sich um. Er sah ein Land wie in den Winnetou-Filmen seiner Kindheit. Eine Ebene, die sich, so weit er in die Ferne schauen konnte, vor ihm erstreckte, gerahmt von obligaten Kalkbergen. Da ereilte ihn eine Stimmung, die erst einmal fünf Minuten des Innehaltens würdig war. Das ist seine Vorstellungswelt, gebildet aus den Filmen, detailliert durch die Lektüren von Karl Mays Romanen, die er als früher Jugendlicher verschlungen hatte. Eine von Kampmanns Welten war hier. Diese Bilder aus seinem geistigen Blick, den er an den Fiktionen schulte und schärfte, gerieten an diesem Ort in Deckung mit einer zuvor nicht da gewesenen Wirklichkeit. Es war ihm wieder einmal nicht bewusst, dass so etwas möglich ist. Er nahm sich vor, nach einem Gasthaus Ausschau zu halten. «Hier einen Sonnenaufgang erleben», seufzte er.

Nachdem er nun von der leichten Erhebung herab in das weite Tal geschaut hatte, orientierte er sich. Rechts lag die Höhle. Und er erschrak. Da bretterte ein kleiner blaumetallischer Opel Corsa, dessen Motor und Auspuff schon bessere Zeiten hatten, knatternd, stinkend und hupend an ihm vorbei. Er folgte dem Fahrzeug, denn es schien unmissverständlich, dass er hier nun an sein Ziel gekommen war. Er wusste noch nicht, dass er sich auf den Eingang eines geologischen Wunders zubewegte. Da unten lag eine Gaststätte. Hier würde er nächtigen. Er grüßte den befrackten Kellner, der rauchend vor der Tür und so aurfrecht stand, als stecke ihm ein Besenstiel im Rücken. Also gut, das wäre schon mal angebahnt. Er schlenderte weiter den asphaltierten Weg voran, ließ das Restaurant rechts liegen, dachte an eine angenehme Verköstigung nach Abarbeitung des Auftrags und schauerte abrupt vor Kälte, die über den Weg strömte. Dort war ein Eingang in den Felsen zu sehen. Vor dem dunklen Loch erstreckte sich ein kleiner Platz, links ein Gebäude, auf dem «VJETRENICA» in recht ansehnlichen Versalien einer ihm unbekannten, serifenlosen und modernistisch anmutenden Schmuckschrift stand. «Es ist also eine Höhle erreicht, das ominöse Ziel.» Eine Touristenattraktion. Und aus ihr entwich überdeutlich ein kalter Hauch, der ihn frösteln ließ. «Der Odem der Steine», dachte er. Ein paar Leute standen im Halbkreis vor einer dunkelhaarigen Frau, es war dieselbe, die vorhin mit Karacho in dem Opel an ihm vorbei gedonnert war. Sie säuselte in perfektem Touristenführerinnenenglisch, sie sei Cima und «ihre Führerin heute». Die sieben Mitwanderer waren mit wattierten Jacken ausgestattet und trugen Schutzhelme. Cima unterbrach sich kurz, zog Kampmann aus dem Halbkreis und verpasste ihm ebenfalls Helm und Jacke, knöpfte ihm 20 Euro ab und schubste ihn sacht aber bestimmt in den Halbkreis der Wartenden zurück. Kampmann hatte keine Vorstellung davon, was ihn erwarten würde. Natürlich hatte er Tropfteinhöhlen besucht, und er erinnerte sich nur mit Grausen an die Jagd nach Amine und den Ghul, die ihn vor nun genau 360 Tagen in die sauerländische Attahöhle geführt hatte. Das ging auf Leben und Tod. Und wieder stellten sich ihm die Haare auf den Unterarmen auf. «Hoffentlich ist hier und heute einmal etwas ganz anderes Phase», dachte Kampmann. Nachdem er sich verstohlen aus dem Kassenhaus in die Gruppe zurückschlendernd noch einmal per Quattrocorder seines Targets versichert hatte. Es war hier, exakt dieser Ort, zu dem ihn die seltsame Tempolimittafel aus Brsečine heute in der Frühe geschickt hatte. Nun, so sei es. Was immer auch passiert, hier würde sich der nächste Schritt auf der Reise unseres unermüdlichen Temponauten gegangen werden. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Parker Quartet, Kim Kashkashian (Viola), György Kurtág, Antonín Dvořák, ECM Records ECM 2649, 485 5984, 22.10.2021