Bröno und die Flüssigkeiten

«Es ist ein Fest.» Pause. Tiefes Einatmen; das kaum sichtbare Mikrofon überträgt den Strom des Lebens über die sensiblen Lautsprecher der PA in den gigantischen Zuschauerraum. Leichtes Kopfnicken des Redners. Alle Scheinwerfer sind auf ihn gerichtet. Er dreht das Haupt von links nach rechts und lässt den Blick über die Unzahl an ovalen Formen schweifen. Es sind ja nur geometrische Gebilde ohne Zahl, die er sieht. Das reicht ihm auch. Denn es geht ihn nichts an, wer da steht; ob das namentragende Jemande oder sonstige Irgendwelche sind oder Individuen oder was auch immer. Da steht beispielsweise Herr Hauptmann in der Menge, und Mrs Robertson, aber auch Oshima-san. Er hebt den rechten Arm, streckt ihn stramm aus und dreht ihn einen Halbkreis weit mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung Tribüne, Galerie und Oberrang. Die Herrschaften dort unten wie oben wundern sich über ihre massive Wölbung in Nasenrichtung auf Äquatorhöhe, aufwärts zeigend, und unwillkürlich greifen sie beherzt zu. Wie jede und jeder, der oder die es spürt, ergriffen ist von einer betörenden, scheinbar pheromonisierten Hemmungslosigkeit. Marieluise juckt es gewaltig, Jason, Herbert und Eric, Martine, Joan gleichermaßen. Und überhaupt werden alle augenblicklich ganz schön unruhig. Denn die Spannung ist geradezu entsetzlich. Der Leib ist ein seltsames Ding. Beseelt, und doch gehört er offenbar nicht immer seinen Eigentümern. «Heute …» Bröno Selfmachteger-Spretz versteht das Handwerk der Betörung.

Niemand aber hat verstanden, warum dieser Mann in Aufmerksamkeit baden darf. Warum es ihm die Welt gestattet, sich so und nicht anders zu gebärden. Bis heute. Er hat allen vor den Kopf gestoßen, obwohl es ihn schon so häufig ins Jenseits katapultierte. Und doch kehrt er stets zurück. Sein Todesstern verging, sein Hubschrauber stürzte mit ihm ab. Immer wieder tauchte er aus Lethe auf und griff mit seinen Unheilshänden tief und rücksichtslos in das Weltgeschehen ein. Er verdonnerte Büttner und Kampmann zur Verdammnis der ewigen Odyssee. Er sprengte das Grand Hotel Europa und wurde dafür gehenkt. Er motivierte die Fascisti Rotolanti am Fuß von Volterra Kampmann aufzulauern und nahm billigend in Kauf, dass die Hairy Armpits ein blutiges Gemetzel an ihnen verrichtete und ihnen ohne Gnade den Garaus machten.

Jetzt ergreift er das Wort, und er ist lebendiger als je zuvor: fühlt er sich seinem Ziel doch so nah wie nie. Sein sei das Reich, wobei er sich immer noch nicht erklären kann, warum er das tut, was er tut. Scheiß drauf, denkt er sich und genießt das Lichtbad. Ja, ich bin einfach der größte Mensch unter der Sonne. Dabei bin ich gar kein Mensch. Oder doch? Wieder etwas, was ich nicht weiß. Ich kann aber jetzt nicht in Gedankentäler fallen. Jetzt muss der wahre Bröno zeigen, was Sprache ist und war und wird. Denkt er. Und hebt an:

«… Bürgerinnen, Bürger. Heute ist der Tag der Konsolidierung.» Zur Steigerung der Dramatik legt Bröno hier wieder ein Päuschen ein. Man kann auch sagen, Vereinigung. Vereinigen ist immer gut. Vor allem untenrum, denkt er sich. Dann lassen wir den Saal tanzen. Jo. Vereinigung. Er schweift ab. Das fällt ihm nicht auf. Da steht er. Das Licht gleißt. Er schaut in die Scheinwerfer. Er schaut auf das Pult vor ihm. Er sieht seine blank geputzten Stiefel. So schwarz, so schön. Dann kann zwingt ihn etwas zur Reaktion. Was ist das für eine Starre? Schließlich ist er heute angetreten, um dem Volk eine Verheißung zu offenbaren. Das Menschengeschlecht sollte erfahren, dass die Zukunft nur dann Früchte für alle trägt, wenn es ihm gehorsam folgt. Er hat ja den Streich mit seinen Leuten ausgeheckt. Giuseppe Coppelius und er haben alles geplant. Thiel-o, Kurzweil-o, Ratzi-o, Müller-o: Sie alle erwarten nun die Offenbarung ihres Meisters. Und alles scheint richtig gut zu laufen. Sie hatten in den Monaten zuvor die Instrumente der Öffentlichkeit bis zum Überdruss bespielt. Auf allen Kanälen war Bröno mit seiner Konsolidierungsbotschaft zu sehen und zu hören. Und da gerade Leder und Anti-Veganismus Hochkonjunktur feierten, brachte er es zu einem Aufmerksamkeitsniveau, das das Universum bis dahin nicht erlebt hatte.

Die Lage war doch allzu verzwickt: Mit dem Einbrechen der intellektuellen Türsteher der klassischen Medien ins Eis des Netzwerks ermächtigten die Dealer von Software ihren Kundendienst zu scheinbarer Total Control. Endlich durfte man selbst auch mal publizieren. Aus allen Rohren feuerten die bislang stummen Stammtischpolterer auf Teufel komm heraus. Welle um Welle schwappte über die Deiche des guten Geschmacks und vergifteten die Ethik gemeinschaftlicher Rede. Alles egal. Im Gegenteil: Wehrte sich mal jemand gegen die lauten Injurien der Anhänger Brönos, grölten diese den Kritiker zugrunde. Man bekomme Redeverbot. Nichts dürfe man sagen. Das klassische Paradox. Die früheren Absprachen im Sinne einer wechselseitigen Wertschätzung und Toleranz galten nichts mehr. So höhlte sich das fragile System von innen aus. Und das passte unserem Bröno. Die RDS hatte abgedankt. Jetzt waren wir es, die den Takt angaben. Wir, weißt du, das sind die mit den glänzenden Stiefeln, makellosen Hemden und Bügelfalten, spitz und scharf wie Rasierklingen. Schnittig. Kamera. Untersicht. Leni dreh’, Leni dreh’, Leni dreh’ die schönsten Bilder vom festen Stand der Macht. Beständig, stramm, stark, unverrückbar. Und all die weichen Deiche derer, die sich durch ihr Leben geschwuchtelt haben, wanken angesichts der Macht des einigen Volkes. Träumt Bröno und bemerkt, wie ihm Flüssiges das linke Bein herab in den Stiefel fließt. Da muss dann wohl wirklich etwas schiefgelaufen sein. Da ist sie also, die gnadenlose Gegenwart. Da plötzlich, Bröno hat exakt zehn Wörter über die Lippen gebracht, da waren sie alle wieder wach. Und sie begannen, kollektiv ihre Köpfe zu schütteln.

«Hast Du das mitbekommen», fragt einer die andere. Und die sagt: «Na klar, und ich frage mich, was wir hier machen. Ich bin so dermaßen geil, dass wir eigentlich mal wieder ganz avanti galoppi, pronto tutti frutti heimfahren sollten, oder was meinst Du, Heinz.» Und der sagt aus den Untiefen seiner Seele: «Dieser Schwachsinn hier. Keine Ahnung, warum wir für die Karten auch noch Geld ausgegeben haben. Ich fand den Typen schon immer neben der Spur. Und klaro. Es tut sich mal wieder was unterm Gürtel. Ab die Post, Schatzi.» Und so machen sich alle nach und nach auf den Weg in ihre Unterkünfte, Wohnungen, Eigenheime und Hausboote. Ist ja schon extrem merkwürdig, wie in manchen Ländern Revolutionen ausbleiben. Der Abend sollte einen Wechsel herbeiführen. Der Aufwand war hoch, doch es zeigt sich, dass die Analysten eben doch nur in die sozialen Netze geschaut hatten. Und das weiß doch jedes Kind, dass dort nur die Triangel mal angeschlagen wird, während der Rest des Orchesters weiter seiner Arbeit nachgeht. Aber diese Orffschen Instrumente haben ja die Eigenschaft, dass man sie selbst beim dreifachen Forte noch heraushört. Und jetzt blickt niemand mehr zurück. Die Lichter brennen noch. Bröno ist in die Knie gegangen. Seine Scham hält sich in Grenzen. Und dann sie erwacht wieder, seine grenzenlose Wut. Die Götter haben es ihm wieder einmal verwehrt, erfolgreich zu sein. «Ich will doch nur einmal über alle herrschen», jammert er, kniend in seinen Flüssigkeiten. Und legt sich und entschläft. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Pink Floyd, The Wall, Harvest, 1C 198-63 410/11, EMI Electrola, 1979