Jetzt sterben wieder einmal alle um dich herum, und du stehst da, schaust zu und rührst dich nicht. Es erschüttert dich, zu sehen, wie alle an ihre Grenzen stoßen. Es bewegt dich, wenn du beobachtest und den Schmerz der Angehörigen selbst spürst. Du bist zurückgefallen in ein Chaos. Als alles geordnet war, gingst Du einer Arbeit nach. Zugegebenermaßen war sie seltsam. Temponautik war nicht nur eine Transportwissenschaft, sie war zudem eine Lebenseinstellung. Sie war dein Leben. Als die RDS auf einer ihrer geheimen Foschungsreisen zum Mond einen Zeitkristall entdeckte und ihn zur Erde brachte, war natürlich lange nicht sicher, welcher Art dieses Geschenk war. Bis die ersten Mitstreiter versetzt wurden. «Cat, hey Cat», rufst du. Hallo wach. Ich bin wieder da, was war nur los?
Abend. Es riecht nach Lagerfeuer, also sind sie an einem Ort, an dem Kohlenstoff… «Aber klar, ich atme ja», denkt Bina. Sie schlendert aus dem Zelt, bückt sich, der Rücken schmerzt. Wie lange mag sie gelegen haben. Du bist müde. Vielleicht bist du zu alt für den Job. Du raffst dich auf. Wie lange hast du geschlafen? Wo ist Cat? Ah, dahinten sitzt sie. Die Orientierung kehrt zurück. Die 耳の神様 schwebt über dem Planeten in einer sicheren Umaufbahn. Mein lieber Scholli, hast du einen Schmacht. Ich könnte töten für einen Dürümdöner. Oder etwas vergleichbar Fleischiges. Denkt sie. Und ruft: «Hey Cat, ich bin wieder da.» Endlich, denkt Cat. Lange hatte sich die Zeitmechanikerin Sorgen gemacht. Und Bina nimmt peu a peu wahr, wo sie sich befindet. Es wird eisig. Das Lagerfeuer ist klein. Es scheint keine Ursache für besondere Vorsicht zu geben. Bina erreicht Cat. Sie umarmen sich lange. «Endlich», haucht Cat ihr ins Ohr. Und schon steigt Bina die Röte in die Wangen. Nun gut. Lassen wir die beiden kurz mit sich allein und schauen uns ein wenig um. Wenn etwas hier charakteristisch ist, dann die Kargheit. Die Drohnen kommen zurück. Das Rechenzentrum an Bord der 耳の神様 hat die Daten ausgewertet. Der Planet ist in einer unproduktiven Phase. Sagt die automatische Auswertung. Was immer das auch meint. Immerhin ist die Software nicht von den beiden Temponautinnen programmiert worden, und beide wundern sich schon lange nicht mehr über gewisse merkwürdige Sprachgebräuche, mit denen sie das System konfrontiert. Natürlich geht es hier um das Klima. Das System ist noch habitabel. Ob es kippen wird, ist nicht ersichtlich. Ebenso undeutlich ist die Situation selbst, denn ginge alles mit rechten Dingen zu, gäbe es keine Atmosphäre, keinen Sauerstoff. Es gibt Meere, aber viel zu wenige Lebewesen, ganz gleich, welcher Art, um so etwas wie eine halbwegs geschlossene Umgebung für einen mit der Erde vergleichbaren Stoffwechsel zu erlauben. Alles sehr seltsam. Man hört hier auch weitgehend nichts. Die Sensoren haben keinerlei höhere Lebewesen entdecken können. Aber alles das muss es gegeben haben. Cat hat Holz gesammelt. Und wenn es Holz gibt, muss es Pflanzen geben. Das spärliche Grün ist ein Hinweis. Bina kommt wieder zu sich, atmet tief durch und setzt sich, blickt hinter sich und sieht stacheliges Gras, oder was immer hier wächst. Also muss es Wasser geben.
«Cat, sag mir, wo sind wir? Was ist das hier? Ich sehe gerade keinen Stern. Es fühlt sich an, als wären wir auf der Erde. Da, der Mond. Der sieht fast aus wie der unsrige. Die Luft, die wir atmen, der Sand, das alles ist mir extrem vertraut.» Cat räuspert sich. «Also fangen wir doch einmal ganz von vorn an. Zuallererst: Wir können hier zunächst einmal bleiben, und Du kannst in aller Ruhe wieder gesund und munter werden. Wir bauen uns hier etwas auf. Und jetzt halte Dich mal ganz kurz fest: Wir sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 93,93501234 Prozent in Messier 89. Und das wäre dann mal 54 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt. Und bitte, frag’ weder mich noch das System auf der 耳の神様, wie sich das wohl so ergeben hat. Unser Schiff hat trotz des fantastischen Antriebs keine Möglichkeit, diese Distanz zu knacken, und weder unsere Ordinateurs noch ich haben eine Antwort auf die Frage, warum das so ist wie es ist. Wir können nicht einmal berechnen, in welcher Zeit wir relativ zur Erde stehen. Schließlich müsste die ja längst platt sein.» «Hast Du, ja, Du hast Pläne.» «Logo. Ich baue ein Array aus Teleskopen, die ein Netz aus Satelliten bilden, an einem der Lagrange-Punkte hier in diesem sehr gut funktionierenden Sonnensystem. Dann schauen wir uns das alles mal genauer an. Die Ressourcen sind da.» Und so erzählt Cat, was sie sich in der Zeit der geistigen Abwesenheit Binas ausgedacht hat.
«Werden wir mit den Breedern dann nicht diese Welt komplett verhunzen», fragt Bina. Doch Cat wiegelt ab. «Werden wir nicht. Im Gegenteil: Wir verwerten und geben zurück. Die Breeder sind gerade im Aufbau. Die 耳の神様 wird die ersten morgen über einen Fährencluster schicken. Wir haben noch einen selbstreplizierenden Archäologen an Bord. Der kommt auch morgen. Ich hoffe, dass der nicht so eine elende Nervensäge wie Brand ist. Ach ja, sicher wirst Du Dich fragen, wo die anderen von der 耳の神様 sind. Zurecht, aber die sind nicht mehr. Ich vermute, dass die bei dem Sprung, von dem wir leider immer noch nicht wissen, wie er und was er war, auf die ‹Hermeneutischer Zirkel› transloziert wurden. Sprich: Derzeit kommen wir nicht einmal mit dem Autopiloten hier fort. Heißt aber auch, dass wir eine künstliche Zivilisation erschaffen sollten, um irgendwann das Schiff mit der nötigen Crew ausstatten zu können. Comprende, Compañera?» «Klingt irgendwie bitter.» «Quatsch, Süße. Das wird unser bester Urlaub, unser bester Trip, unsere Grand Tour des Lebens. Und das Schönste ist: Ich mache das alles mit Dir!» Bina schaut verlegen zu Boden. Cat schließt sie in ihre Arme. Es wird nicht nur gut. Denkt sie. Es ist so gut! Und so dankt sie dem Universum. Dieser unfassbaren Ungeheuerlichkeit, dieser grenzenlosen Zumutung. Diese Sterne. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Christine and the Queens, Paranoïa, Angels, True Love, Because Music, BEC5611841, 2023 (Triple Vinyl)