Angeber

«Streaming Media muss zur Waffe werden», sagt Büttner. Und der schreibt das Jahr 1993. Kampmann schüttelt den Kopf. Das kann er sich nicht vorstellen. Büttner atmet durch und lässt sein Mont-Blanc-Meisterstück kunstvoll zwischen beiden rotieren, wie der Police Officer seinen Schlagstock zwischen Demonstranten. Nicht, dass sie über diesen, genau diesen Aspekt der Vernetzung ausdauernd in den vergangenen Wochen diskutiert hatten. Kampmann ist zwar kein Trottel, aber er hat Schwierigkeiten zu deuten, besser: das Veränderungspotenzial zu ermessen, das mit gewissen neuen Technologien einhergeht. Das war schon so, als der Computer längst das Licht der Welt erblickt hatte und sich anschickte, die nächste Welle der Automatisierung loszuschlagen. Er hatte vor Jahrzehnten als Geschäftsführer eines nicht allzu kleinen Technologieunternehmens prophezeit, dass die Weltgesellschaft maximal sechs Computer damals und bis übermorgen benötigen, bauen und einsetzen würde. Hingegen sah Büttner schon immer die Summe aus eins und eins. Vielleicht stellte sich Kampmann alles ganz anders vor. Büttner behielt jedoch recht.

Jetzt ist es anders. Sie sitzen im Hotel «Wiesbadener Raum» und betrachten den träge zerfließenden schwarzen Block, den Büttner, der Künstler, angesetzt hat, um ein neues Werk zu gestalten. In der Mitte des Ambientes ruht auf einem simplen hölzernen Küchenstuhl ein Kochgerät mit zwei Platten. Darauf liegt ein schwarzer Quader, der peu a peu unförmiger wird. Es stinkt wie auf einer Autobahnbaustelle. Dass der Hotelbesitzer das mitmacht?!? Arbeiten mit Bitumen ist so angesagt, wie das Arbeiten mit diaphanem Wachs. Die Gattung der Malerei erlebt eine neue Konjunktur. Jan Hoet hatte mit der Documenta 9 die Gegenwart in die Zukunft mit vergangenen Techniken gebracht und damit die Kunst gerettet: wieder einmal, und Büttner half kräftig dabei mit.

Kampmann faselt wieder von Vernetzung. «Wir sind doch vernetzt. Was willst Du mehr?» Das irritiert ihn, der gerade bei Kittler studiert und mit seinen Kommilitonen über Cyberpunk und Ethernet nachdenkt. Bruce Sterling, Gibsons «Neuromancer», Stephensons «Snow Crash», die Texte von Philip K. Dick und immer wieder Thomas Pynchon und E.T.A Hoffmann und Goethes Bettina. Derweil kriegte es am Golf. Vor dem Stream. Aber die Zeiten geraten durcheinander. Die Erzählungen ohnehin. Es gibt Daten, an denen nicht zu rütteln ist. Im Blick auf diese Zeit, in der sich Büttner und Kampmann eigentlich nicht kennen durften, wird jedoch klar, dass aus globaler Sicht den Angeschlossenen ein Fest bevorstand und der Rest auf Jahrzehnte weiter ausgeschlossen blieb. Und selbst wenn keiner der beiden in den krausen Jahren zwischen 1990 und 1995 vom anderen gewusst hatte, lief doch zwangsläufig alles darauf hinaus, dass sie sich Jahre später in der Muffathalle erstmalig begegneten. Da war das Serverfestival schon in vollem Gang. Kampmann kam ja immer zu spät.

Büttner lud ein. Man saß bei ihm daheim im Wohnzimmer. Laptops aufgeklappt, Rechner surrten. Damals war noch alles weitgehend Kabel. Und man redete viel mehr. Die Mobiltelefone hießen noch Handy und waren nicht in jeder Hosentasche, aber in fast jeder. Bier floss. Zur Not musste man zum Kiosk ums Eck gehen. Basis Sedanstraße, wenn man sich recht erinnert. Matze aus Kassel war dabei. Bestimmt auch Bolee, andere? Keine Ahnung. Büttner träumte von einem Betriebssystem, dass nicht top down Hierarchien wie in einer Diktatur abbildete. Kampmann, der damals schon von den X-Systemen infiziert war, hielt mit seiner Sicherheitsparanoia dagegen. Er war nicht so für radikale Openness zu haben. Die Wahrheit gestaltet die Wirklichkeit. Heute haben sich die Büttnerschen und Kampmannschen Befürchtungen, die übrigens die gleichen waren, längst als Alltag kristallisiert. Es gibt Crime as a Service. Kauf Deine Bots und brich in Rechner ein. Und trotzdem machen immer die anderen das große Geld und lassen die Mehrheit hungern und viele verhungern. Und wehe, da ist etwas offen.

Kampmann und Büttner im Rechenzentrum des Serverfestivals, halluziniert von Adobe Firefly. Prompt: Holger Karsch

Honeypot, wir kommen. Was waren das doch für Zeiten, als man naiv davon ausgehen konnte, dass das, was man dachte der Welt und dem Zusammenleben der Menschen wirklich etwas brachte! Heute ist man eines Besseren oder Schlechteren belehrt. Und man landet doch wieder bei den Banalitäten der Finanzströme, der Habgier und all’ den andern fiesen menschlichen Eigenschaften, die sicher niemals aus den Gesellschaften zu bringen sind. «Und ist diese Erkenntnis nun eine des Alters?», fragt Kampmann den Bitumen-Meister aus dem Hessischen. Büttner und er zucken im Duett die Schultern und lachen.