Bina fand auf dem Dachboden den Koffer mit den Fotografien. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Deckel anhob und mit fasziniertem Blick auf den Kram schaute, der sich offenbarte. Sie erfand sich in ihrer Obsession. Sie vermisste etwas. Jemanden. Die Luft war voller Staubkörnchen. Das Grau der Balken, die Sonne, die durch die Schindeln lugte, durch jede Ritze drang sie ein und umgab die junge Frau mit einer Aureole aus unnützen Partikeln. Alles war in Flugstaub erodiert. Auch ihr Leben. Da also drang die Zeit dann doch noch an sie. Während sie wieder einmal auf die Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg schaute und Vorfahren, die sie nie kennenlernen konnte, in ihrer Abstraktion lichtbrechender Kleinstpartikel veranschaulicht bekam, geisterten die Gedanken an einen langen, endlos erscheinenden Traum. Etwas in ihr drängte sie zu einer Handbewegung. Sie griff sich mit der linken Hand fest an die rechte Schulter und wusste doch, dass sie das nicht war. Sie konnte den Blick nicht schweifen lassen. Der Koffer fesselte ihn und hielt damit auch ihren Geist in Gefangenschaft. So sah es auch aus. Auf dem Bild waren Menschen hinter einem Zaun. Sie hatten sich darin verkrallt. Es waren sehr dünne Menschen, Männer zumeist. Sie wirkten, als seien sie aus Papier gefaltet. Ihre Kleidung bestand aus einförmigen Stoffbahnen mit breiten Streifen. Einige trugen seltsame Kopfbedeckungen. Die muteten an, als seien es Wasserschalen für die Katzen in einem Innenhof des Hotels in Krumau. Doch so viele Katzen hätten zu viele Probleme verursacht. Daher blieben die Kopfbedeckungen seltsame Kopfbedeckungen, und die Menschen in dem Bild schienen in eine Sonne zu blinzeln. Welche das war, konnten sie vielleicht selbst nicht genau angeben. Da sie allesamt den Eindruck erweckten, dass jemand sie lange davon abgehalten hatte, diese, ihre Sonne wahrzunehmen. Und so konnten sie es nicht glauben, dass vor ihnen nicht die Unterdrücker, sondern die Befreier standen. Das alles sah Bina aus dem Bild heraus an.
Und da hatte sich eine schwarze Kugel in ihr gebildet. Wie das Gewölle aus Restzeitereignissen rollte sich die Geschichte ein zu diesem Knäuel, das nicht zu entwirren sein wird. Bina wurde mit der Geschichte trächtig, aber die Tracht war ihr Leid und die Sorge und nicht die Herrlichkeit von sonnigen Erinnerungen. Sie biss sich schmerzhaft auf die Zunge und schmeckte den sprichwörtlich metallischen Geschmack ihres Blutes. Den Zauber um sie herum nahm sie nicht wahr. Das aber hatte mit dem Gewölle zu tun. Gerade schien sie nicht in der Lage zu sein, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Es war ihr fremd. Diese Leben, die sie erkannte, waren nicht ihre Leben. Und doch konnte sie nicht von ihnen lassen. Wusstet Ihr, dass Bina voller Liebe war? Mit jeder erkannten Richtung zeigte sich ihr immer auch die andere Seite, die in die sie nicht gehen würde. Nur in diesem Augenblick, in dem ihr der Schmerz das Herz zerriss, sah sie alles auf den schwarzen Ball zuströmen, und eine Kugel hat bekanntlich alle und keine Richtungen. Sie war gefangen in einem Schmerzraum. Denn in dieser Welt fehlte das wichtigste Lebewesen, das ihr jemals begegnet war. Erstaunlicherweise hatte der Moment das zur Folge, was ihr auch vorher schon zu schaffen gemacht hatte: Bina verlor das Bewusstsein.
Als sie aufwachte, starrte sie an die sterile Decke ihres Raumschiffs. Cat begann damit, sich aus der Zeitliege zu schälen. «Du hast vielleicht wieder einen Kram erzählt», mokierte sie sich. «Noch eine solche Tour, und ich bringe mich um. Was ist nur in dir, dass du so deprimierendes Zeugs erzählen musst?» Bina erwachte langsam und schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Ich bin so froh, wieder hier zu sein. Dennoch werde ich den Eindruck nicht los, als ob diese Realität keine ist.» Cat zweifelte: «Ich weiß, was du meinst. Genau sogar. Man erzählt sich etwas und splittet dabei die Realität. Der Nebenweg wird dann ebenso wahrscheinlich, wie das Gebilde, in das man hineingeboren wurde. Viele haben gedacht, dass das dann nebeneinander verläuft. So, als gäbe es parallele Welten, man sprach auch von Paralleluniversen. Ich glaube seit unserem Trip nicht mehr daran», erläuterte Cat ihre Gedanken. Die Mechanikerin hatte eigene Vorstellungen zum Thema Kosmologie und höherer Physik. «Selbst wenn man das alles rechnen kann, ist es doch niemals mit dem abzugleichen, was wir zu erfahren in der Lage sind. Es muss Abkürzungen und so etwas wie Intertwinedness geben. Letzteres ist der Effekt, den wir beim Reisen evozieren. Vielleicht holen wir ihn für uns hervor. Aber muss er nicht da sein? Und wer sagt dann, dass die Kausalität aufgehoben wäre?» Bina schüttelte den Kopf: «Lass‘ uns später darüber reden. Wir sollten als erstes herausfinden, wo wir sind. Dann schauen wir, was wir zusammentragen können. Vielleicht gelingt es uns ja, ein Paper zu schreiben.» Dabei lachte sie das erste Mal seit gefühlt dreihundertzweiundvierzig Jahren. So lange schien es her zu sein, dass sie einen positiven Gedanken den ihren nennen durfte. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Matthew Bourne, moogmemory, Leaf, BAY93V 2016