In der Sukzession

«Hast Du das Geld?», raunte Giuseppe Coppelius dem weichkäsegesichtigen Egon Murks hinter vorgehaltener Hand zu. Beide drückten sich wie Dealer in einer finsteren Ecke am Ende der Brückstraße herum. Zwischen dem Postershop und der Hochgarage kauerten die Drogenabhängigen auf dem Betonbordstein wie Spatzen auf einer Stromleitung. An den Hauswänden lauerten die Checker auf Kunden, und keine Polizeistreife war (wie immer) in Sicht. Hier hatte man alles sich selbst überlassen. Das war sozusagen die Restitution an die Natur der gesellschaftlichen Entwicklungspotenz. Sukzessionsflächen dieser Art hatte der Magistrat bewusst angelegt, um – Onto- gleich Phylogenese – darauf zu bauen, dass sich irgendwann einmal eine Art Straßendemokratie ausbilden würde, die von selbst dafür sorgte, dass derlei seit Jahrhunderten üblicherweise in jeder Agglomeration menschlichen Seins auftauchende Phänomene von Klein- und Großkriminalität, sich durch die Nachbildung von Humanismus und Aufklärung von selbst erledigte und in den Schoß der bundesdeutschen Freiheitlichen demokratischen Grundordnung zurückkehrte. Man darf ja mal träumen. Bröno hatte das alles eingerechnet, denn er wusste ja um die Schnittstellenproblematik. Aus parteitaktischen Erwägungen hatte die CDU-Regierung ihrer Bevölkerung verheimlicht, dass ihr Gesellschaftsexperiment nur in Teilen die Herren der Fliegen beseitigen würde, aber doch nur dann, wenn es insular, sprich ohne Austauschort und Anschlussstellen mit dem Rest der Stadt vor sich hin vegetieren durfte. Da aber dieser Teil der Stadt direkt an andere grenzte, die quasi normal (was immer das heißen sollte) betrieben wurden, war das Setting von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber so lief nun einmal Staatskunst in Zeiten ubiquitärer Austeritätspolitik. Sparen bis der Arzt oder die Feuerwehr oder die Technische Nothilfe oder die Bundeswehr kommen. Oder alle zusammen. Gut für das Drogenvolk. Besser für Bröno.

Er hatte seinen Schergen zu Murks geschickt und ihm die Herrschaft über den Mond und die inneren Planeten des Sonnensystems versprochen. Murks, die Speckbacke mit dem Säuglingsantlitz, war natürlich sofort darauf eingegangen. Weg hier, dachte er sich, egal wie und mit welchen Mitteln. Ich habe meine Raketen. Aber ich kann nicht weg, also wie? Na ja, es würde schon werden. Er hatte es soeben noch geschafft, ein paar Milliarden in einer Blockchain zu verstecken und wartete nach dem Fiasko in Brandenburg, bei dem über 4000 Malocher in den Tod gegangen worden waren, auf die Gelegenheit, wieder auf die Bühne zu treten, besser: so zu tun, als träte er ab. Und weg wäre er gewesen. Der Dortmunder City-Rand war der geeignete Platz für die Realisierung der ersten Pläne.

Egon Murks hatte beileibe bessere Zeiten gesehen. Er war so etwas wie der König des Tech-Puzzles: Leg’ die verschiedenen Steine aus, Murks baut sie zusammen und macht ein lukratives Business daraus. So hatte er die erste schlagkräftige E-Mobilitätsplattform realisiert, indem er sich zwischen zwei kalifornische Burschen drängte und aus den Bestrebungen, einen geilen E-Sportwagen zu bauen, mal eben eine gewinnbringende Limo-Fabrikation mit Verheißungen auf autonomes Fahren in einige Landschaften zwischen Texas und Brandenburg fantasierte, was sogar Wirklichkeit geworden war. Und Murks sprach: «Es werde Kapital», und so wurde es damals auch Kapital. Bis eben dieser radikale Chemieunfall passierte, bei dem irgendwie hochradioaktives Material nicht nur die Fabrikarbeiter, sondern auch die Anrainer, die wegen der schlechten Lage dazu fähig waren, zu halbwegs vernünftigen finanziellen Konditionen in der Nähe der Fabrik ihr Eigenheimchen hinzustellen, in Massen einem unwürdigen Ableben anheimgefallen waren. Nicht wissend, dass Egon Murks alle und jeden verarschte und ganz nebenbei subliminal an einer Atomwaffenproduktion vom Feinsten bastelte. Dumm gelaufen, aber die Arbeit mit Plutoniumzentrifugen ließ sich ebenso wenig verstecken wie das Material selbst. Hach, Castoren in der Mark? Wie das? Aber Murks hatte auf oberster Ebene das Endlager und komplett im Geheimen versprochen. Und ihm, der schon einige Hightechthemen finanzierungswürdig und boulevardtauglich gemacht hatte, glaubten sie alle. Bis zum Kanzler hoch. Gebongt, oder, Kollege Schulz? Klaro. Mit hanseatischer Würde schaffte Ole Schulz es problemlos, alle Genossen vom guten Willen Egon Murksens, ungeachtet des seltsamen Namens, zu überzeugen. Erfolg macht sexy und sagt nichts darüber aus, welche Ethik oder sonstigen gesellschaftlichen Prinzipien hier gereizt, ausgereizt und verheizt werden. So ist das, wenn der Schein wedelt. Kein Wunder, dass sich Bröno diesen Kasper als Marionette ausgesucht hatte. Und dann ging das Ding hoch und konfigurierte den einst reichsten Spinner der Galaxis zum Marionettchen von unserem umtriebigen Bröno.

Wie konnte das dem Murks denn passieren? Nicht gerechnet hatte der mit Helene Altschmied und den «Yesterday’s Children». Die waren in nur vier Jahren zu einer massiven Bewegung herangewachsen und hatten ihre Finger in all den Wunden, die Großfinanz und Politikverdrossenheit zustande brachten. Unterstützt wurden sie von Princess Margret, seit sie aus dem Knast heraus war. Ging das also doch wieder los? Mal abwarten. Kann ja sein.

Streicheldocumenta. Der möchte man nicht anheimfallen. Foto: Familie Kampmann

Für Murks hatte sich Bröno jedenfalls etwas Schönes ausgedacht, sollte der sich sträuben, ihm dienstbar zu sein. Und er brauchte nicht einmal Hand anzulegen. Er nannte es die «Streicheldocumenta», doch es war mitnichten so harmlos oder kunstvoll, wie sich das Wörtchen ins Hirn einschleimte. Es war ein ausgewachsener Folterroboter. Aber noch lief ja alles. Murks sprach mit Coppelius in Dortmund über den Koffer. Das Geld für die Übernahme. Und weil Murks am Arsch war, weil Altschmied die ganzen Skandale aufgedeckt und an die Öffentlichkeit getragen hatte und nun neben Assange im Knast vor sich hin rottete, musste er an Ecken stehen und auf Geschäfte warten, die niemals Erhabenheit über Zweifel erlangen würden. Sein Schicksal, offenbar, aber das Leben kann so grausam sein, und die speckigen Backen bekam er ja doch nicht voll. Anstatt sich zu bewegen und die Bewegung zu genießen, wurde er fetter und fetter, weil er natürlich in Deutschland nicht mit den Radical Chips Chicks gerechnet hatte. Und wieder stolperte er über eine seiner vielen charakterlichen Schwächen. Die RCC, zu denen natürlich auch Helene Altschmied und Princess Margret gehörten, waren Predigerinnen des schlechten Essens. Aber nur vordergründig, wenn sie Propaganda für Pommes, Currywurst, Chips und Cola machten. Aber das war eine andere Geschichte, die nur am Rande mit unserer vermischt ist.

Personen? Ja, und so ist das: Viele machen nichts, andere viel. Und zu den anderen zählten eben Margret und Helene. In jedem Fall gingen dann die Geschäfte nicht mehr ganz so gut, als das Brandenburgische Werk in einem vielsätzigen Konzert wortwörtlich abhob mit seinen Tausenden Arbeiterinnen und Arbeitern und allen Anrainern im Umfeld. Und in Texas dito. Murks haute daraufhin ab, wurde aus allen Ecken und Enden vertrieben, nicht einmal mehr am Strand der Caymans war er sicher, auch da die so langsam absoffen. Also schlich er sich dorthin, wo alle brav sind: nach Deutschland, nach Dortmund in die Sukzession. [Fortsetzung folgt vielleicht; alle denk- und vorstellbaren Bezüge zu lebenden Gestalten sind sowas von dermaßen zufällig und unabsichtlich, also wirklich! Ich bin doch kein Parasit oder Plagiator. Was denkt man sich denn.]

Soundtrack: Kali Malone, Living Torch, Portraits GRM – SPGRM 004