Desmokratie

Im enorm heißen Sommer des Jahres 2023, in der Kühle von Trstenos Arboretum, präziser: im zentralen Gebäude des Gartens herrschte eine herzlich wenig ausgelassene Stimmung. Die Getränke wurden nicht geliefert, und die Großkopferten des RDS gingen zur Tagesordnung über, weil sie – zurecht – keine Lust mehr hatten, auf den überfälligen Kampmann mit seiner überfälligen Lieferung zu warten. Sie waren seine Eskapaden ebenso wie diese scheinbar unnützen Tagungen leid. Natürlich konnten sie nicht wisssen, was wir wissen. Alles stöhnte unter der Last der Temperatur. Nur die Kühle des Hauses linderte ein wenig die Qualen in dieser überaus angespannten Situation. Wenn sich die RDS zu einem Gipfeltreffen entschließen konnte und sich hier in Kroatien sämtliche wichtigen Leitungsfunktionäre, und das waren alle, da es keine Funktionen, Rollen, Hierarchien oder ähnliches gab, trafen – wobei wir Beobachtenden uns schon immer fragten, wo genau eigentlich Kampmann in diesem Augenblick abgeblieben war –, dann wurden dauernd Reden geschwungen, und das kluge Daherreden mündete nicht selten in eine Lagebestimmung. Und zum Schluss gab es ein kühles Bier.

Das Verrückte an diesen Meetings war immer Folgendes: Alle waren genervt, aber am Ende kam stets das Gute zum Vorschein. Es scheint ein europäisches Prinzip zu sein. Man anerkennt sich im Unterschiedlichsein. Büttner jedenfalls schlug den Gong. Es war Zeit für die Keynote. «Wir haben Kampmann verloren», begann er, und nach ein paar einfühlenden Worten übergab das Wort an Sanct John. Das war mit Sicherheit einer der klassischen Fehler der RDS. Der gute SJ in seiner weißen Altherrenaufmachung war zwar der Inbegriff der Coolness des 21. Jahrhunderts, nur leider hörte er nie auf zu reden, was jedoch generell ein Problem der meisten Protagonisten der RDS war, aber SJ konnte es von allen am besten. Wer war auf die krude Idee verfallen, ihn als Eröffnungsredner zu nominieren? Dabei standen eine Menge Tagesordnungspunkte auf dem Programm. Und es war jetzt klar, dass ohne Kampmann abgestimmt werden müsste. Also schien der komplette Ablauf aus den Fugen zu sein, obschon lediglich Kampmann fehlte. Margaret war wütend und voller Angst. Dennoch: Zuerst sprach der Alte mit dem Bericht zur Lage.

«Kann man der öffentlichen Debatte, dem politischen Sprachraum noch etwas zufügen – außer Gewalt und eine weitere Stimme zur Verknäuelung des ohnehin schon unauflöslichen Geknotes aus Geschrei, Falschaussage, Rollentäuscherei, Überheblichkeit und dem Streben nach einer Diktatur, wie es von einem signifikanten Bevölkerungsanteil gefordert wird? Wäre ich zu Kants Zeiten geboren worden und hätte es diese Situation damals gegeben, wäre vielleicht dies die Frage gewesen, die der Königsberger Philosoph hätte beantworten müssen – preiswürdig. Wer würde etwas anderes behaupten wollen. Nun hatte er sich damals um die Aufklärung gekümmert. Und unser aller Werner Hofmann, der bewunderte Kurator und Vorkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, stellte diese Zeit im Jahr 1989 mit Blick zurück um 200 Jahre aus und erzählte uns von Verklärung und Verfall. Das war zu einer Zeit, als die rechtlich eingebettete Wende nach Deutschland kam und die Landschaften in den Hirnen der Konservativen zu blühen begannen. Was mir damals zu schnell ging, als ich mit den anderen stritt und mit den Argumenten eines damals erst mäßig desavouierten Politikers ins Rennen ging. Heute sieht vieles anders aus. Wir haben eine Geschichte, die beinahe so alt ist wie die historische Dauer von zwei Vorläuferrepubliken, von der eine ein Staat war, in dem individuelle Rechte wenig mit Freiheit zu tun hatten und der andere dieselben mit der Freiheit vor den Regalen der Supermärkte verwechselte. Jetzt ist es 35 Jahre her, dass die ersten Mitbürgerinnen ganz deutlich und laut markierten, dass sie das SED-Unterdrückerregime satthatten. Wo stehen wir heute? Was ist geblieben von der Vorstellung, dass wir eine Nation sind, die sich einer Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft verschreibt? Vielleicht ist die Gegenwart ein weiterer Wendepunkt in unserer Republik. Über den Zustand kann niemand von uns, was sage ich, niemand generell ernsthaft glücklich sein, es sei denn, er meint es nicht allzu gut mit uns allen und dem gesamten Planeten. Was allerdings jetzt und hier als herausgebrüllt zu verstehen ist, betrifft den unsäglichen Zustand, in dem sich Teile des Landes und Teile seiner Bürger befinden, für die wir doch eigentlich kämpfen wollten. Diese Worte sollten in einem Atemzug und in voller Lautstärke in die Welt gesprochen werden, aber ich bin zu müde und zu demoralisiert, und ich frage mich, ob die Arbeit im Untergrund überhaupt noch Sinn macht, wenn uns keiner mehr haben will. Denn wir nähern uns wieder einem Albtraum für alle. Wollen wir das?»

Die Anwesenden schwiegen. Die Betroffenheit war greifbar. Wer in die Runde schaute, sah, wie die besorgten RDS-Mitstreiter zu Boden schauten. Dann litaneite Sanct John weiter: «‹Ist doch nicht so schlimm›, mag der eine oder die andere daherseufzen und sich mit Bauch und Bierchen auf der Couch umdrehen. Doch, ist es. Es gibt mittlerweile Parteien an den Rändern der Demokratie, die das Recht mit Füßen treten. In einem Landesparlament hat es angefangen, aber wo geht es weiter? In Thüringen, in dem die Neonazi-Partei erwiesenermaßen juristisch und von uns als rechtsradikal überführt worden ist und ihr ‹Führer› Faschist genannt werden darf. Und ein Stotterer, stillos und dummaggressiv totalitär, spricht Redeverbote im Parlament aus. Ein Alterspräsident, der sichtlich parteiisch sein Amt besudelt. Doch das ist lediglich die Eruption eines Tanzes im Jahr 2023 unterhalb des Kraters, in dem faschistisches Magma brodelt – seit langem schon. Dass die DDR ein Problem mit Rowdys hatte, weiß man seit ewigen Zeiten. Das hatten wir weit vor der Wende auf dem Schirm. Da war ich In Ostberlin als Korrespondent inkognito. Heute haben diese Nazis, die ihre Agenda in Hoyerswerda oder in Rostock-Lichtenhagen durchzusetzen versuchten, längst Kinder großgezogen. Was denken die wohl? Was meint Ihr? Das Land hat einen Ostbeauftragten. Der wirbt um Verständnis. Doch die Rattenfänger hat das nie angefochten. Sie wussten ja, dass sie leichtes Spiel haben würden. Sonst wäre alles anders. Ist es aber nicht.

Ich habe es damals in einem dieser überalterten Stadtteile in Leipzig erlebt. Das war Anfang der 2000er-Jahre. Im Auftrag der Konsumgenossenschaft Zukunftkaufen beobachtete ich in der Blücherstraße die Skinhead-Tussis, die in den schmalen Gängen ihre Kinderwagen vor ihren Springerstiefeln mit den weißen Schnürsenkeln herschubsten. Und Sie schaufelten Dosenfraß in die Netze und stierten blöde aus toten Augen unter den blondierten Gardinenponys hindurch. Und am Wochenende zogen ihre Macker, die sich auch nur darin unterschieden, keine Gardinen vor der Glatze zu tragen, mit länglichen Futteralen aufs Land. Wehrsport? Nicht nur wahrscheinlich, sondern gewiss. Ich habe damals sabotiert, was ich konnte. Ich habe alles polizeibekannt gemacht. Leipzig war ja noch ein weitgehend nettes Pflaster, sah man von den Krawallen in Conne zum 1. Mai ab. Das mit dem Demokratieverständnis war auch da nicht so wirklich echt. Was für die durchgeknallten Autonomen gleichermaßen galt und gilt. Trotz aller autonomer Krawallbürsterei: Es war beschämend, dass bei den wieder aufgeflauten Montagsdemos schwarze Hemden mit schwarzweißroten Flaggen mitmarschierten, während Christian Führer an die Menschlichkeit gemahnte, um Nachdenklichkeit in Sachen Agenda 2010 und Hartz IV zu erzeugen. Also damals war das schon nicht mehr echt. Heute ist nichts mehr echt. Heute fehlt einem Großteil der Demokraten selbst der Anstand.»

Ein Raunen ging durch die Menge und Margarets Kloß im Hals schwoll weiter an. Zwar hatten sich die Mitglieder der RDS dazu verpflichtet, keine Kollektivsingulare zu benutzen oder Gruppenschelte zu betreiben, aber Sanct John war wie immer unberechenbar, und weil er eines der ältesten noch lebenden RDS-Mitglieder war, ließ man ihm vieles, wenn nicht alles durchgehen. Unter anderem, dass er viel zu viel und zu lange redete. Aber das war ohnehin eins der Insignien dieser obskuren Gesellschaft. So what? In der einen oder anderen Ecke in der dritten bis vierten Reihe vor dem kleinen Pult aus Rosenholz konnte man Hände vor weit offenen Mündern sehen. Margaret wurde, im Unterschied zu den anderen, von der SJ-Rede nicht müde und folgte, um sich zu beruhigen, mit den Augen einer kurvengewohnten Bikerin den engen Windungen der Maserung des Holzes. Und immer noch schien es, als wolle Sanct John nicht aufhören zu reden.

«Eigentlich ist es ja zum Lachen, dass die so genannte CSU die so genannten sozialen Medien mit Kacheln flutet, auf denen beispielsweise steht, dass die Grünen eine ‹Verbotspartei sei›. Wie angstzerfressen müssen diese Status-quo-Beharrer sein, dass sie zu solch’ erbärmlichen Lügen greifen, um über den Unterleib die Stimmen ihrer sukzessive abwandernden Klientel abzufischen. Leider destruieren sie damit die Grundfeste unserer Demokratie auf unanständige Weise. Dabei hört man aus höchsten Regierungskreisen hinter vorgehaltener Hand, dass wir derzeit den besten Wirtschaftsminister auf Bundesebene seit langen hätten, was mir zugetragen worden ist – ich habe es überprüft, und es stimmt. Wie also fühlt es sich gerade an in diesem Land, wenn wir im Linearfernsehen Landeshasser erleben, wie sie munter ihren Dreckkübel mit Lügen über uns ausgießen, sich selbst aber in diktatorische Nachbarländer verpissen? Kotschleudern ist so einfach. Und dann reden diese Honks auch noch völlig schambefreit auf die Frage, ob es denn etwas Gutes in ihrer früheren Heimat gebe: ‹Ja klar. Meine Rente.› Das ist pervers. Warum nehmen diese Parasiten dann nicht die Staatsbürgerschaft ihres neuen Gastlandes an? Und dann schimpfen sie über ‹Wirtschaftsflüchtlinge›! Solche negativen und destruktiven Gestalten sollten doch Rückgrat zeigen, was sie aber nicht haben, und komplett auswandern oder sich – besser noch: ausweisen lassen. Aber die Gier, deren niederträchtige Gier, die lässt sie weiterhin an den Brüsten der Heimat saugen, bis sie selbst diese so leer gesaugt haben, dass von ihnen nur noch leere Hüllen übrig geblieben sind. Und dann wird natürlich so rechts wie möglich gewählt. Und man trifft sich in rechtsradikalen Zirkeln beim Bier und tümelt munter vor sich hin und hat nichts, aber auch gar nichts begriffen, was das Gute daran ist, dass das Hotel Europa für sie etwas bereithält, was sie nicht sehen können. Von Wohlstand will ich nicht reden. Nennen wir es Freiheit. Was für abscheuliche Typen.» Sanct John stoppte seinen Redeschwall und brach abrupt ab. Und alle dachten, er bekäme jetzt einen Herzkasper. Bekam er aber nicht. Sie waren nur froh, dass es jetzt vorbei war.

«Ich muss raus. Egal wie heiß es ist, ich muss jetzt raus», stöhnte Margaret, und Büttner bedankte sich bei SJ für die «offenen und leidenschaftlichen Worte, aber nun ist es auch gut». War es das? Sanct John hatte recht. Die Gesellschaft litt unter einer zunehmend aggressiver werdenden Identitätskrise. Natürlich hatte es überall gebrodelt. Vor den Wahlen im Osten schon. Die Nazis hatten sich eine rechte Partei gekapert, Bröno hatte ihnen den Kampf der Kommunikationsguerilla beigebracht, und die Dinge nahmen ihren dreckigen Lauf. Es ging ja auch alles viel zu schnell. Vor allem im Netz. Die Utopie der früheren Internetnutzer vaporisierte sich, und aus dem Staub entstanden die überwachungskapitalistischen Allmachtsphantasien von Influencern, deren Agenda es war, in kürzester Zeit möglichst viel aus dem System zu pressen. Sie machten sich gut als Handlanger auch von politischen Interessen. Es musste erlernt werden, wie man die Klaviatur der emotionalisierenden Beeinflussung spielte. Welche Tasten zu drücken waren, um die Effekte der Massenhysterie durch möglichst wenige, aber dafür umso lautere Gesänge des Chors von Scheinmeinenden zu erzeugen. Dann kam die Angst vor Neuem, die Angst vor Veränderung von selbst. Was für ein Luxus, dachte Margaret, die innerlich schon wieder erheblich auf Gewalt aus war. «Und was sollen wir nun als RDS unternehmen? Mir klebt zu viel Blut an den Händen. Wenn ich nur daran denke, wie es bei Volterra zuging, gruselt es mich vor mir selbst. Wo nur kommt das her? Ich will das nicht mehr. Es muss ein Ende haben. Und ich weiß doch, dass es keines geben wird. Wir stehen vor immer denselben Fragen und Entscheidungen. So geht es den Autonomen und Zeitnazis und mir. Ich habe wirklich keine Ahnung, was mich hierhin getrieben hat.»

So dachte sie vor sich hin, als sie das Weite suchte. Sie begab sich schnellen Schritts zum Ausgang, ließ diese uralten, riesigen Bäume hinter sich und schwang sich auf ihre feuerrote Ducati, setzte sich den knallroten Arai-Helm auf, startete den V4-Zylinder. Langsam fuhr sie die wenigen Meter bis zur Kreuzung zur Küstenstraße. Sie bog rechts ab, wartete bis sie die zwei, drei Kurven aus dem Dorf war und brannte dann ihre Sorge mit vollem Schub in den Asphalt. Und dann schlängelte sie sich wie Kampmann in Richtung Zaton. Dabei vergaß sie sich selbst und alle schlechten Geschichten. Sie wollte nicht mehr. Spätestens nach der Rede von SJ spürte sie, dass sich etwas in der RDS und ihrem Leben geändert hatte, und auch sie trug ihr Scherflein zu diesen defätistischen Auflösungserscheinungen bei. Sie war nicht mehr dabei, nicht mit ihrem Herzen. Weil niemand mehr dabei war. «Es ist alles Politik geworden», war ihr letzter Gedanke. «Es ist alles nur noch Sprache und Text, wenn selbst Sanct John einer Partei das Wort redet. Wohin sind wir abgedriftet»

Der Motor drehte auf 12 000 Touren hoch im zweiten Gang. Seine maximalen 208 Pferdestärken wurden hier zwar nicht abgerufen, aber die Autos auf ihrer Spur blieben hinter ihr. Sie fuhr wie immer, wie eine Teufelin. Das machte ihr so schnell niemand nach. Das Knie ausgestellt. Mit dem rechten Oberschenkel auf dem Einsitzer schiebt sie ihren Körper unter das Motorrad. Das Fahrzeug sirrt wie auf Schienen durch die schier endlose Linkskurve. Sie fühlte, dass es zwar der Zweck war, der sie angetrieben hatte, in den bewaffneten Kampf gegen die Zeitnazis zu gehen. Aber die Mittel, die sie und ihre Gang benutzt hatten, waren nicht die richtigen gewesen. Sie war nicht eins mit der Maschine. Das war anders als sonst. Ihr Gehirn hatte noch nicht ausgesetzt. Jetzt war wirklich alles anders als sonst. Wenn Margaret früher fuhr, vereinte sie sich mit der Maschine. Und jetzt fühlte sie sich schrecklich allein. War das eigentlich Kampmann? War er es wirklich, den sie so vermisste? Oder ging es nicht vielmehr darum, mit dem fürchterlichen Ennui klarzukommen, der in dieser elenden Sommerzeit alles Frische, alles Schöpferische aus den Adern und Hirnen saugte? Ja, sicher musste Bröno das Handwerk gelegt werden. Und natürlich waren sie auf einem guten Weg. Und ebenso natürlich war es klar, dass die Bürger:innen Europas nichts davon mitbekommen sollten. Aber das alles stank vom Himmel. Kein einziges demokratisch legitimiertes Instrument hatten ihnen den Auftrag erteilt. Und SJ schwallerte vom Untergang der Demokratien. Dabei war die RDS das Paradigma der Selbstermächtigung. Dachte es. Dachte genau das. Und verzweifelte. Was sollte das alles noch? Der Motor lief rund und drehte. Der Akrapovič leitete Abgase und den Schall der höllischen Explosionen in den Brennkammern der vier Zylinder in die genervte Umwelt, und zum ersten Mal kam ihr auch das Motorradfahren sinnlos vor. Zum Verzweifeln. Nein, sie war verzweifelt, und sie wollte das alles nicht mehr. Sie wusste, es gab kein Zurück mehr aus dieser vertrackten Lage. Entweder, sie stieg komplett aus, oder sie musste sich das Leben nehmen. Und dann kam er ihr entgegen. Er saß in seinem Taxi. Und sie? Verschwand. Sie? [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Joy Division, Closer, Factory 0060.361, FACT XXV, Metronome Musik GmbH, PRS Hannover