Dimensionsspiele

Also war alles ohne Anfang und ohne Ende. Jedenfalls hatte es den Anschein. Die Logik der Zeichnung sollte ihnen vorgeschrieben haben, selbst in einer kugelförmigen Szene ohne jede Ausdehnung zu existieren, besser: existieren zu müssen. Das wiederum würde bedeuten, sie befänden sich in einem schwarzen Loch. Und noch ein wenig genauer beschrieben, müsste davon ausgegangen werden, dass jede von ihnen selbst die Singularität wäre. Zwei Singularitäten mit der gewissen Masse? Bina und Cat waren auf alles gefasst. Ihre Blase oder Sphäre in der Eigenzeit hatte den absolut unwahrscheinlichen Geschichtendrive erfunden, einen Antrieb, der nur mit Wörtern, gesprochenen, zu Stories geordneten Wörtern und Sätzen und Absätzen als Treibmittel funktionierte. Je mehr Geschichten jemand an Bord im Maschinenraum erzählte, umso weiter konnte das Flugobjekt reisen. Dieser Antrieb ließ sich, so dachten sie alle, in den Grenzen ihres Universums steuern. Dabei war ihnen auch keineswegs klar, ob es überhaupt so etwas wie ein Paralleluniversum geben würde. Also war das schon alles vorstellbar, was die beiden erlebt hatten. So wie es sich abgespielt hatte. Weniger vorstellbar war, wie sie zurückkommen sollten. Denn so weit draußen war eben noch niemand gewesen, selbst mit der Narratokete (Kunstwort aus Narration und Rakete) nicht. Jetzt waren sie für die Dauer von ein paar Jahren auf diesem Planeten irgendwo bei Messier 89, wussten nicht, wie sie dorthin gekommen waren, und hatten noch keine verlässlichen Informationen aus Daten ihres Arrays sublimieren können.

Und dann lag da plötzlich diese Zeichnung vor ihnen. Und sie fragten sich, ob es denn sein könne, dass es auch Entfernungen gab, die selbst unvorstellbar waren, was sie aber wieder darauf zurückwarf, dass letztlich alles, was nicht zu überschauen war, im Grunde unfassbar blieb. In den eigenen vier Wänden sahen beide ihre Grenzen und verorteten sich, doch selbst der Horizont, dem sie hier auf dem Plateau entgegen sahen, entzog sich ihrem Verstehen. Vielleicht müsste man doch noch unterscheiden: zwischen dem Verstehen, dem Nachvollziehen, dem Vorstellen? Denn dann ließe sich eine differenzierte Sprache entwickeln, deren Semantik gegebenenfalls der Distanz zur Heimatgalaxie Paroli bieten konnte. Also wenn die Narratokete bzw. ihr Antrieb Bina und Cat aufgrund des recht einfach zu verstehenden Verhältnisses zwischen Wörtern, syntaktischen Verbindungen, die eine gewisse Semantik adressieren, die allgemein verständlich sein muss, um treibende Kraft zu erzeugen, in einer Art Wahrscheinlichkeitsraum berechenbare Konstellationen zu einem unwahrscheinlichen Vortrieb zu nutzen verstand, dann würde die Relation in einer darüber befindlichen Dreierkonstellation zwischen Vorstellungsdimension, oder besser -vektor, Nachvollziehbarkeitsvektor und Verstehensvektor in eine übermäßig treibende Semantik münden, die das dagegen eher unterkomplexe Verhältnis einerseits zwischen Sprache und Bedeutung in eine recht schwierig zu berechnende multidimensionale Ebene hob, was zwar noch nicht an eine erklärbare Theorie multiversaler Parallelitäten oder Überfaltungen heranreichen würde, aber immerhin öffnete sich damit das Fenster zu einer Lösung des doch allzu nahe liegenden Problems der Frage nach der Überwindung einer ziemlich großen Distanz.

Nachdenklich betrachteten die beiden die Zeichnung vor sich auf dem steinernen Grund: «Bekommen wir das hin, Schatz?», fragte Bina ihre Freundin. Beide verharrten erst einmal in ihrem gemeinsamen Schweigen. Nach einer Weile dann Cat: «Wir brauchen Material. Ich weiß schon, was. Erst einmal rufe ich Imdahls ‹Ikonik› ab. Dann füttern wir den großen Bordrechner mit dem ‹Mann ohne Eigenschaften›, der ‹Klavierspielerin›, aber wir brauchen auch den gesamten Stamm der Prosa von Foster Wallace, Pynchon und Dick. Und natürlich Feynmans ‹Vorlesungen›. Und Theweleit, Kittler und Derrida. Wird schon, Baby. Lass mich mal ein paar Tage rechnen. Mit solch‘ einem Cocktail können wir spielen.» Na, das waren mal Neuigkeiten. «Vielleicht muss ich ein neues Mikrofon konstruieren. Aber das ergibt sich. Jedenfalls katapultiert uns die Zeichnung weiter, als unser Array, selbst wenn es sicher dann auf der Erde einen Haufen nasser Hosen geben wird, wenn wir die Daten gesendet haben. Und beim JPL können sie sich schon mal warm anziehen. Ich denke, dass wir uns mit dem, was wir hier mitbringen, drei Nobelpreise in Mathe und Physik verdienen werden.» Und dann dachte sich Bina, dass Cat doch der Hammer war, und freute sich auf diese jetzt erneut anbrechende Phase optimisierender Geschäftigkeit, die sie an Cat so liebte. Was für ein Wahnsinn in formvollendeter Schönheit! [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Taylor Swift, 1989 (Taylor’s Version), Republic Records, 0245554214, 27.10.2023