Paradiesische Botschaft

Die 耳の神様 zog souverän ihre Bahnen hoch oben im Orbit und war nicht einmal in der planetaren Nacht sichtbar. Das Schiff schirmte den Planeten ab. Man konnte nie wissen. Gerade hier nicht. Die alte Frage nach der Wahrscheinlichkeit: Warum sollte es bei der unvorstellbaren Anzahl von Exoplaneten nicht doch irgendwo andere intelligente Lebensformen geben? Und gesetzt den Fall, es gäbe sie, wer garantiert, dass sie friedlich sind. Cat liebte Bina, Bina liebte Cat – unten. Aber so langsam verging den beiden die Lust an sich und der Lage. Der Aufenthalt in M 89 dauerte schon zu lange. Was als die seltsamste Feststellung gelten kann, auf die jemand in dieser Situation kommen mag, da die Heldinnen zum einen Temponauten, zum anderen Raumfahrerinnen waren. Natürlich wussten sie, wie viel Zeit seit ihrer Landung vergangen war. Irgendwann trat eine Art geistiger Tag- und Nachtgleiche ein. Der Stern stieg zwar immer auf, und der Tag auf diesem wunderschönen und ausgesprochen friedlichen Eiland in der Raumzeit hatte auch hier eine stets gleichbleibende Anzahl an Stunden. Selbst die Schwerkraft, annähernd bei einem G, machte keine Zicken. Es war erst himmlisch, allerdings mit der Zeit dann doch irgendwann, beiden war der Zeitpunkt genauso wenig bewusst, wie ihnen klar war, was sie hierher katapultiert hatte, irdisch geworden. Sie hatten sich eingelebt und ein Haus in diese Farben gebaut. Und das von Anfang an. Hier teilten sie ihre Stunden und ihre gemeinsame Einsamkeit. Sie waren daran beinahe verzweifelt, dass sie fehlgegangen waren mit ihrer Überlegung, dass es lediglich eines leistungsstarken Teleskops bedürfe, um die Position bestimmen zu können. Vor vier Tagen lief das Cluster an. Und wie zu erwarten war, lief es hervorragend. Cat hatte mit allem eine großartige, von niemandem zu übertrumpfende Ingenieurinnenarbeit geleistet, und Bina war froh, dass sie ihr dabei assistieren konnte. Nun lief der 360-Grad-Scan seit erdzeitlichen 96 Stunden und lieferte bislang nur Murks. Nicht eine einzige identifizierbare Konstellation konnte HUSAR1, der große astronomische Bordrechner der 耳の神様, ermitteln. Das war frustrierend. Eigentlich wäre es wahrscheinlich gewesen, wenn sie vom ersten Objekt an hätten zurückrechnen können. Sie hätten zurückrechnen können müssen: zumindest auf die Position des VLUOTA2. Aber da war das Nichts. Wenn man frustriert sein wollte, dann jetzt. «Weißt Du was, Bina? Ich glaube, wir brauchen einen Erfolg. Was meinst Du?» Bina kratzte sich auf Kragenhöhe den Haaransatz. Natürlich hatte Cat recht. Jetzt hingen sie hier in irgendeiner Pampa, mochte sie auch noch so schön sein. «Ja, ich halte das nicht mehr aus. Wenn wir hier noch länger bleiben müssen, kann es sein, dass ich durchdrehe. Nichts für ungut, mein Herz, aber wir sind soziale Wesen. Das lässt sich nicht leugnen. Und man kann nur in der Menge allein sein. Zu zweit sind wir definitiv zu wenig Menge. Wir könnten eigentlich nun damit beginnen, uns gegenseitig irgendetwas vorzuwerfen. Was meinst Du?» «Super Idee. Wie fangen wir das an?»«Am besten beginnen wir mit dem beliebten Spiel ‹Schubs den Schwarzen Peter›. Richard Sennett hat das in seinem Buch «Together» ganz wunderbar beschrieben, das ist so ein alter Schinken aus den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts, der, weil es so ein wunderbares Buch ist, auf der Erde keine Spuren in der Gesellschaft hinterließ, zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, als wir uns auf die Reise begaben.» Sie hielt einen Augenblick inne und sinnierte, dann reimte sie sich, wohlwissend, dass ihr Zynismus sicher niemanden heilen würde, kurz die Geschichte zusammen: «Alles fängt damit an, dass man sich wechselseitig die Schuld für etwas hinreichend Nebensächliches oder für die Existenz von Naturgesetzen gibt. Klagen wir uns also gegenseitig an. Ohne Murks, das hat ja alles immer noch Bedeutung. Aber ehrlich gesagt, mag ich das nicht. Ich will keinen Ärger. Und vor allem nicht mit Dir. Dennoch: Es ist alles zu anstrengend. Ich habe unterdessen HUSAR befragt. Die Kiste meint, dass es eine unheimlich herausfordernde Leistung wäre, wenn wir mit dem Array die Milchstraße sehen wollen. Wir müssen uns also jetzt einmal richtig damit beschäftigen. Ich werde ein paar Programme schreiben, die unterschiedliche Wellenlängenbereiche durchforsten: Infrarot-, Radiowellen inklusive. Und natürlich die für uns sichtbaren optischen Bereiche. Außerdem will ich mal schauen, ob wir Gravitationslinsen nutzen können. Unser Array hockt jetzt auf einem der Sonne abgewandten Lagrangepunkt, sieht also bestens und ungestört. Dann soll er da eine Kugel sichten, dann schicken wir ihn weiter. Das Gerät vermag, sich innerhalb kürzester Zeit selbst zu komprimieren und den nächsten, lichtabgewandten Halteort belegen. Das ist der Nanoschwarm, der dann zu einer festen Formation gerinnt und sich dann mit der Sonnenenergie in Bewegung setzt. Trotzdem dauert es. HUSAR hat natürlich keinen Zugriff auf aktuelle irdische Messdaten. Wir sind also darauf angewiesen, dass die in der Datenbank gespeicherten Daten hinreichend für die Datenarchäologie sind.»

«Wären wir in Andromeda, hätten wir diese Probleme nicht, aber wir sind unglaublich weit von der Milchstraße entfernt», klagte Bina. Nun ja, die beiden Heroinnen wissen, dass es nicht einfach ist, wenn man in solche eine Situation gerät. Eigentlich würde in solch einer Lage nur Die Liebe Gott helfen, aber die hatte es vorgezogen, sich in die Datenräume von Teams zu verkriechen, um dort mit Büttner Katzenfilme anzuschauen. Auf niemanden war zu dieser Zeit im Universum Verlass. «Dennoch falle ich immer wieder auf diesen Moment zurück: Stell’ Dir vor, es hätte uns erwischt, dann wären wir nicht hier. Mir wird gerade mal so recht deutlich, dass wir beiden wahrscheinlich die ersten Menschen unserer Generation sind, die so weit von der Erde entfernt sind.» Cat dachte, es sei ein schwacher Trost, aber sie erhob keinen Einwand, um die Stimmung nicht weiter zu trüben. «Natürlich hast Du recht. Und wir haben hier schon eine Menge geschafft. Wenn ich mir hier alles so anschaue. Unser Shuttle ist das einzige, das augenscheinlich auf eine andere Zivilisation hindeutet. Wir haben dieses Haus gemäß den Bedingungen gebaut, auf einem Acker Pflanzen kultiviert, ja, mit ein wenig genetischer Nachhilfe aus dem Labor, aber der Evolution muss man angelegentlich auf die Sprünge helfen. Du hast den Array realisiert. Wir haben hier in relativ kurzer Zeit ein Lebenswerk geschaffen. Das ist ja nicht nichts.» «Und wir haben uns nicht eine einzige Sekunde gestritten. Ist also ein Dasein ohne Zwist zwischen Menschen möglich.» «Das setzt voraus», schmunzelte Bina, «dass wir Menschen sind.» Die beiden küssten sich und lachten. Dennoch war ihnen schmerzlich bewusst, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.

«Warten wir also weiter. Was sonst?» Bina scharrte mit den Füßen auf dem staubigen Grund des Plateaus in Nachbarschaft des Hauses. Sie ging mit Cat hier häufig spazieren. Mit ein paar Sprüngen war man oben und hatte einen sehr weiten Blick, der besonders an Tagen wie diesen, trocken, blauhimmlisch, warm bei 21 Grad Celsius und mit leichter Brise die Forschung nach Abschiedsmöglichkeiten schwer machte. Sie schauten in die Ferne über die Kronen der Bäume hinweg. «Warum kann es hier denn keine Intelligiblen geben?», fragte Bina zum nicht mehr zählbaren Mal. In der Luft schwirrten Mücken, die nicht stachen und sofort Reißaus nahmen, wenn man sich ihnen näherte. Einen echten Prädator unter den Lebewesen war ihnen der Planet immer noch schuldig geblieben. Und so kamen sie nicht umhin, immer wieder zu denken, wie gut es ihnen doch eigentlich ging. Bina wollte nicht undankbar gegen das Leben sein, dennoch empfand sie das nötigende Ausharren als Isolationshaft. Dieser wunderbare, paradiesische Planet war ein sehr, sehr großes Gefängnis. Und kein Wärter kam, um ihnen zumindest das Gefühl einer Außenwelt zu vermitteln. Mit einem Mal sah sie im Staub vor sich, wie kleine staubige Rinnsale sich bildeten. «Das ist aber merkwürdig, Cat. Schau Dir das hier an.» Cat, die derweil mit dem Quattrocorder den Array um ein paar Mikrosekunden wendete, drehte sich zu Bina und erstarrte. «Weißt Du, was Du da gerade freigelegt hast?» «Na klar, das sind einwandfreie Zeugnisse einer Zivilisation, denn es scheint eine Schrift zu sein. Das kann kein Zufall sein!» Umgehend gingen beide in die Hocke. «Wie lange sind wir nun hier und haben dieses offensichtliche Zeichen nicht gesehen? Und warum haben unsere Sensoren nichts registriert?» «Lass’ uns vorsichtig sein», mahnte Cat. «Na, aber sicher.» Und schon beeilten sie sich, ihre archäologischen Gerätschaften aus dem Shuttle zu holen. «Wir müssen die 耳の神様 noch dazu bewegen, uns die Kiste 27B-9 aus dem Werkbereich zu senden. Aber erst einmal die Basics mit dem Quattrocorder.» Beide zogen ihre Geräte aus den Gürtelholstern, und schon maßen sie die Dimension dieser Steinschrift. Vielleicht war es doch der Stirling-Pratchett-Effekt, und es hatte sie in eine parallele Welt verschlagen. «Nein, Bina, hör’ auf mit diesen Fantastereien. Das kann nicht sein, denn sonst hätten wir andere Sternbilder. Es ist evident, dass es uns nach Messier 89 verschlagen hat. Daran ist leider nicht zu rütteln. Du weißt doch: Steige in den Fluss der Zeit, und der Raum wird sich kräuseln. Das hat uns Maurizio gesagt, und jetzt erleben wir immer noch, welche Auswirkungen diese Dilatation haben kann.» «Recht hast Du. Also weiter. Siehst Du das? Schau mal, das Gerät meint, dass die Enden der Zeichnung nicht hier auf dieser Welt sein sollen.» Beiden stockte der Atem, als sie die simultan angezeigten, identischen Ergebnisse ihrer Quattrocoder von den Displays ablasen. Jedoch hatten beide die Landschaftsleser in verschiedene Richtungen gehalten. «Das wird ja immer verrückter», meinte Bina und fuhr wie ihre Gefährtin mit der Untersuchung weiter fort. [Fortsetzung folgte bereits]

Soundtrack: Lee Morgan (Trompete), feat. Sonny Clark (Piano), Doug Watkins (Bass), Art Taylor (Drums), Candy, Blue Note BLP-1590, CP32-5226, BNST 81590, Blue Note CD Super 50–26, Japan, 23.07.1986


1  HUSAR: Hoch-UnwahrscheinlichkeitsSprach-Artistisches Rechenwerk.

2  VLUOTA: Very Large Universal Orbital Telescop Array.