Traumzeitcrème

Ich warte, warte und warte. Der Fußboden ist exakt solch ein Einerlei, wie die passierte Erbsensuppe der Wandbemalung. Nur in Grau, leicht meliert. An den Wänden klebt ein Kessel Buntes. Auf den Tischen in der Mitte des Raums liegen Zeitschriften, die Geschichten von Menschen erzählen, die es dem Anschein obszönen Reichtums nach gar nicht geben dürfte. Unsere Gesellschaft ist spannend. Einerseits liegen Jahrhunderte von Terror und Krieg hinter uns, andererseits spielt sich immer noch dasselbe maskuline Mehr-Prinzip wie immer ab. Nur eben mit einer Reihe von Abschieden. Etwa von Einfachheiten. Das führte zu dem bürokratisierten Wasserkopf zu Beginn der 2000er Jahre. Mit dem besten Wissen und Gewissen inszenierte sich ein Hotel Europa scheinbarer Gemeinschaftlichkeit und spielte «Zimmer frei». Denkste. Und heute warte ich auf einen Arzt, der nicht mehr von sogenannten Krankenkassen für die Behandlung seiner Patienten bezahlt wird, sondern von Sprawls Inc. oder vergleichbaren Unternehmen. Tschüss Solidarität. Hier und heute denke darüber nach, was ich eigentlich noch von den Großen erwarten kann. Ich muss mich fragen, welche Zwangsanteile meine denkbare Familie, die ich in der Vergangenheit gehabt haben mochte, ins Verderben stürzen könnten.

Die fackeln nicht lange. Wir haben sie, sind gefangen. Get’em out by friday. Und dabei gehören wir noch zu den Bessergestellten. Denke ich an Vaters Erzählungen, kann ich nicht glauben, dass alles einmal anders gewesen sein soll. Bevor er starb, vertraute er mir seine Überzeugung an, dass nämlich Neu Schanghai besser für die Welt wäre, denn wenigstens sei es dann ehrlich verfilzt und ausschließlich für die Superreichen wie Egon Murks profitabel zu leben. Im Grunde wäre ohnehin jedes Fitzelchen Leben von konsumeristischen Interessen durchzogen, und er, der immer arbeitende Vater, wundere sich, dass die global operierenden Unternehmen sich nicht schon längst in wechselseitige, bewaffnete Kriege verstrickt hätten. Er wusste ja nichts davon. Man meinte nur zu wissen, denn schon die russischen Wagner-Söldner hatten den Kremlbesatz klammheimlich fortgeputscht. Das Einerlei der Unterdrückung in diesem Strich von Land interessierte ohnehin niemanden. Die Flüchtenden kamen irgendwie unter. Der Rest? Im Namen des Volkes, versteht sich. Merkwürdig, dass das, so dachte mein Vater jedenfalls, mit Neu Schanghai vorbei gewesen sein sollte. Er habe sich das niemals vorstellen können. Richtig, denn unter der Haube starben alle munter weiter, die unschuldig waren, Schuldige vielleicht auch. Niemals aber die richtig Schuldigen. Da alle weitgehend temperiert ihrem Dasein nachgehen konnten, fiel das nicht mehr auf. Und um die Überschwemmungen mit verseuchtem Wasser kümmerten sich die NGO-Betroffenheitsfanatiker. Und auf hörte keiner, wollte auch keiner hören. Die Eltern seiner Eltern hatten Zeiten erlebt, in denen die Vokabel Wohlstand nicht einmal Bestandteil des allgemeinen Wortschatzes gewesen war.

Und nun dieses Aquarel. Das Warten regt mich auf, geht mir auf die Nerven. Braun, beige. Wartezimmer. Für was eigentlich? Ich habe vergessen, warum ich hier sitze, aber den Termin nehmen wir wahr, nicht dass der noch verfällt. In der Tiefe ruhen weit zurückliegende Bilder. Wo war das nur? Der Blick auf die Überweisung, die mir Dr. Schweickhart vorhin gab, verrät mal wieder eine ganz andere Company als vor ein paar Wochen. Das High-Speed-Trading und die vollständige Deregulierung des Marktes durch Invisible Hands Inc. beziehungsweise Neu Schanghai, wie es nun heißt, hinterlassen überall ihre Spuren. Wer mich sieht, denkt, ich sei in mich versunken, aber ich bin fluchtbereit, weil ich keinem mehr traue. Und über PILZ oder WASTE erreiche ich niemanden. Das macht mir Angst. Ganz ehrlich? Ich fürchte mich hier. Aufblickend sieht sie, dass im Wartezimmer kaum noch jemand sitzt. Der Raum ist für gut 200 Menschen ausgelegt. Jetzt fällt es ihr wieder ein, woran die Farben sie erinnern. Da waren diese Fotos aus den Alben der Großeltern. Oder stammten die Fotografien schon von den Urgroßeltern? Und da war der Tropenkoffer. So konnte sie sich die Geschichte zusammenreimen.

Auf dem dunklen Dachboden, aus einem Holz gebaut, das spröde kleine Splitter zu produzieren schien, roch es nach dem Rezept und der Evolution von Dreck: man nehme alte Spinnweben, Staub und die von den Frühling-, Sommer-, Herbsthitzewellen ausgedörrten, alten, fast schwarzen Dachsparren. Dann die Feuchtigkeit dazu, alle Jahre wieder. Und den Ziegeln, die lediglich aufeinandergelegt waren und durch die kleinen Ritzen das Tageslicht hereinließen, was im Sommer überirdische Strahlenfächer in die Staubkonzentration der Atemluft zauberte, Schwebeteilchen der Geschichte wie romantisch in Runge oder CDF gemalt. Da oben war nichts ausgebaut. Den Boden bedeckte schieres, braunes Linoleum. Ich erinnere mich an sprödes Zeitungspapier. Das roch oder trug seines dazu bei, diese olfaktorische Spröde zu konzertieren. Keine Gaube. Kein Ständerwerk, das Räume hätte umschlossen halten können. Hier standen Kisten, Umzugskartons, sehr alte Koffer aus Presspappe, und die meisten Behältnisse beherbergten enttäuschend langweiliges Zeug, etwa silbernen, hässlichen Weihnachtsschmuck. Und die Band spielt «In the Mood». In den Ruinen steht der Baum mit silbernen Kugeln. Sie denkt an Wolfgang Koeppens «Tauben im Gras», Nachkriegsdeutschland, die schlechte Zeit, von der Oma immer sprach.

In den ersten Jahren konnte sie dort oben in den Habseligkeiten der längst Verstorbenen stöbern. Aus den vergangenen Zeiten schürfte sie eine ganze Reihe papierner Zeugnisse ans Tageslicht. Fotos neben den Pässen, Mitgliedsausweisen, Lebensmittelmarken aus der Zeit nach dem Zweiten Großen Krieg, den andere den Großen Vaterländischen Krieg nannten, als andere Generationen noch vom Zweiten Weltkrieg sprachen. Fotos: Lazarett. Ein Zug in einem polnischen Dorf. Winter, Schnee. Männer in Uniformen. Viele weit weg. Manche porträtnah. Diese Kompositionen waren keine Meisterwerke. Natürlich konnte sie sich kein Bild mehr davon machen, wer sich auf diesen Aufnahmen in unbeholfene Posen brachte. Ihr Blick – ein analytischer. So viel hatte sie aus dem Chemieunterricht mitgenommen, dass es ihr nicht schwerfiel, festzustellen, wie gut die Bilder noch erhalten waren: Kein Licht drang an die fotochemischen Oberflächen, und bis auf die – zugegeben – teils gravierenden Temperaturunterschiede lagerten jene Zeugnisse des prädigitalen Zeitalters hier oben optimal.

Längst alles voller toter Seelen oder: Was bedeuten die Bilder? Foto: Familie Paasch

Das Einzige, was fehlte, waren die natürlichen Farben. Die gab es jedoch für den Fotoamateur damals noch nicht, oder wenn, dann nur gegen erheblich mehr Entgelte. Dort oben, hoch oben, doch fern dem Himmel, saß sie mit ihren neugierigen Augen unter einer Glühlampe mit sehr wenigen Watt Leistung und angemessen fragilem Faden im Trübdunklen. Vielleicht eine der letzten ihrer Art. Gelbe Bilder, stärker noch das gelbe Licht, brünett, beige die Patina der Fotos. Fehlen nur noch Spinnen und ihre Netze, um dieses Setting aus einem Psychohorrorstreifen der späten 1970er Jahre zu vervollständigen. Arachnophob sind wir jedoch nicht. Und so sah sie das auch nicht, während sie daselbst das Ensemble vervollständigte. Die Bilddaten einsaugend. Menschen, deren Leben sie nicht teilte. Und doch Interesse. Warum eigentlich? Wo kam das her?

Sie wusste, dass die Abgebildeten Leute ihrer Sippe waren. Aber niemals wird sie ihnen näher kommen. Verloren, aus und vorbei, verstreut. Die sind ohnehin alle tot. Das können sie noch nicht, die Seelen derjenigen wieder aus der Versenkung holen. Mag der Orpheus von Invisible Hands Inc. singen, er wird niemals bis an die Grenze des Hades gelangen, geschweige denn, sie zu überschreiten vermögen. Dessen Kinder müssten erst noch geboren werden. Die aber wären aus anderem Holz, sag’ ich dir. Was bleibt, sind Rekonstruktionen.

Das hat sich in den vergangenen 250 Jahren nicht geändert. Und da stehen sie zu viert vor einem Haus. Das alles hat einen seltsam orangen Touch. Was ist das für eine Farbe? Das Haus ist mit gelben Platten verkleidet. Die Menschen sind viel zu klein. Man muss es dem Fotografen lassen, dass er alles vollständig zeigen will, zeugt von seinem Willen, Vergangenheit festzuhalten. Es gab einmal ein Dessert aus der Tüte, das übrigens die gleiche Farbe hatte wie die Verkleidung des Hauses. Ein ungesundes, helles Gelb mit einem leichten, kaum merklichen Einschlag ins Grün. Majala Traumcreme. Man sieht das ganze Haus. Davor stehen vier Gestalten. Jung, bedauernswert hübsch sind sie anzusehen: schwer und tief, Schmerz, der war anhaftend und sich übertragend auf jeden, der schaute. Mit zunehmendem Abstand wird er größer werden, und die Gewissheit soll bleiben, dass das Bild jene Grenze markiert, die früher einmal der Styx gewesen ist, in zartem Flirren. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Genesis, Foxtrot, Charisma 6369922D (CAS 1058), 1972