Der Monokel fiel. Das runde Glas drehte sich, und er sah es nur als Schemen. Eine Münze ohne Kopf und Zahl. Dann bremste die Kette den freien Fall. Wilhelm erstarrte. Er hatte vorhin am 8. Dezember im Jahre des Herrn und der Dame 1988 Dead Can Dance im Kurhaus gesehen und erging sich in schäbigen Phantasien rund um einen Tanz mit Lisa Gerrard, wurde jedoch selbst in seinem leider wenig kühnen, sondern eher schlüpfrig-schwülen Traum abgewiesen. Wieder einmal. Er, der alte Klumpfuß, konnte anstellen, was er wollte. Es klappte nichts, er war der Loser. Sein Dasein erschöpfte sich im Nichtsnutzigsein. Mit dem verschleierten Blick eines stalkenden Halbpsychoten verfolgte er das Augenglas, bis es, an der Goldkette gefangen, in den Zustand wirren Pendelns überging. Hypnotisiert davon und in Gedanken schaute er sich inmitten der Säulen und seinesgleichen um. Putin, der alte Vampir, scharwenzelte um die letzte Urenkelin irgendeines Zaren. Er hatte sich nach und nach Richtung Thron gebumst. Diese Ratte, dachte Wilhelm. Dieses alljährliche Fest in Wiesbaden hatte er gestrichen satt. Überhaupt: Dieser gesamte Adelsmist. Alle Normalos träumten davon und lasen das «Neue Blatt» und andere Gazetten dieser Art. Blaublüter, pah. Was hätte er dafür gegeben, nicht in diese Mischpoke hineingeboren worden zu sein. Nun gut. Macht und ihre Verteilung. Wir schicken alle in den Krieg. Und in Wiesbaden spielen wir Jahr für Jahr die Dummen. Die vom Nichts, das sie erzeugen, nichts gewusst haben wollten. Wer bitte glaubt das denn noch.
Mit einem Griff saß der Monokel wieder im Auge, und Wilhelm starrte sein Gegenüber fassungslos an. Karsch stand mit seinen blondierten Haaren vor ihm und schaute ihn ausdruckslos, leicht lächelnd, wissend wie ein Buddha an. «Grüß Dich, Wilhelm. So sieht man sich wieder.» «Was machst Du denn hier, Holger.» «Tja, ab und an müssen wir nach den Rechten und den Linken sehen, damit sie nicht über die Stränge schlagen. Das kannst Du, gerade Du, Dir doch bestimmt denken, oder mein Lieber? Oder hast Du alles vergessen? Serbien und so. Oder Deutsch-Südwest? Nun, lassen wir das. Komm mit. Hier haben wir nichts verloren.» Karsch packte den rechten Arm des Kaisers und zerrte ihn mit sich aus dem Ballsaal. Putin schaute den beiden neidvoll nach. Und kaum hatten sie den Raum verlassen, ihre Mäntel übergezogen und das Kurhaus verlassen, hörten sie einen dumpfen Knall. «Nun, das war’s dann wohl mit zirka drei Vierteln Deiner Art. Und bitte nicht mich beschuldigen. Du weißt ja, dass wir vom RDS keine bewaffneten Aktionen durchführen. Also hör auf zu jammern. Putin ist hin. Wäre ich kein Mensch, hätte ich gejauchzt. Der hat genug für drei solcher Attentate auf dem Kerbholz.»
Widerwillig zog Wilhelm mit. Karsch schubste ihn in den kleinen Mercedes, der als Dr. Maybach bis ins nächste Jahrtausend überleben würde. Mit den 300 Pferdestärken aus sechs Zylindern und 19,5 Litern Hubraum ging die 1917 mit einem Flugzeugmotor gepimpte Kiste aus dem Jahr 1907 ab wie die Mark. «Willi, Du Flachspaten, erzähl mal, was ist Deine Lieblingsgeschichte?» Schrie Karsch gegen den Orkan an. Er hatte sich mittlerweile mit Lederhäubchen und Fliegerbrille equipiert und reizte den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen bis zur Weißglut. Ihre Mäntel wehten wie die Fahnen vor den Vereinten Nationen bei strammem Sturm auf dem East River im Winde. Nur fehlt der menschenrechtliche Ansatz, denn Entführung blieb Entführung, selbst, wenn es die RDS betraf. Wilhelm saß stumm hinter der kleinen Scheibe und fragte sich, was das wohl alles zu bedeuten hatte. Und dann erfand er sich wieder seine kleine Welt, und siehe da. Um sie herum rotierte es, und kaum dass sie Quack sagen konnten, befanden sie sich im Anflug auf den Orm-Akkumulator, der seine Kreise im Orbit über der Erde des Jahres 1917,5 drehte. Was immer das alles bedeutete. In seinem Hirn rief seine Mutter, er solle zum Essen kommen. Das Weltall sah Wilhelm nicht mehr. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Red Lorry Yellow Lorry: Talk About The Weather, Red Rhino Records REDLP 50, 1985