Schuhe fürs Leben

Mein Name ist Holger Karsch, und ich bin Redakteur einer Literaturzeitschrift, die einmal im Vierteljahr erscheint. Ich habe zwar nicht viel mit eigenen Texten zu tun, aber gelegentlich schreibe ich. Irgendwann einmal habe ich eine Geschichte geschrieben, die niemals veröffentlicht wurde. Sie wird niemals veröffentlicht werden. Sie sollte eine Geschichte der Dudes in Europa werden. Als ich sie schrieb, liebte ich unseren europäischen Nachbarn im Westen wie das Gelobte Land. Diese Zuneigung zu Frankreich hat sich bis heute gehalten. Wann immer es mir möglich ist, fahre ich dorthin und genieße. Aus diesem Grund habe ich Frankreich für den Schauplatz meiner Geschichte erwählt. Das ist nichts Besonderes. Es gibt ja auch Deutsche, die schreiben Krimis über einen bretonischen Kommissar. Und natürlich flossen ein paar eigene Erfahrung in die Geschichte ein. Das ist doch immer der Fall. Außerdem hatte ich einen Freund, der ein wenig älter war. Es stellte sich heraus, dass er aus Lyon stammte. Heute lebt er wieder in Frankreich. Hat, so berichtete es seine Tochter aus der Stadt, mit zunehmendem Alter davon geträumt, dem kühlen Norden zu entfliehen, um in seine Stadt Lyon zurückzukehren. Er konnte es sich leisten. Und Dünkel waren ihm gleichgültig.

Der Name war geborgt, nein erfunden, sodass es ihn nicht schmerzte, unter seinem Label heute im Internet Tausende Bilder dieser übertriebenen Treter aus der Fabrik zu finden, die, teuer zwar, allerdings nichts mit seinen Diensten von einst in der skandinavischen Stadt zu tun haben. Jetzt kassiert der Patron mit. Das war die Bedingung, das ist seine Pension. Nicht, dass er ohne Erspartes dagestanden wäre, aber seine Familie war clever genug, Anwälte den Preis aushandeln zu lassen. Für einen Namen, der auf dem gesamten Erdball für die gesamte Palette an Qualitätsbegriffen hinsichtlich kostbaren Schuhwerks und außergewöhnlichen Zuvorkommens stand. Jacques hatte vor Jahren durch exzentrische Aktionen mehr aus innerem Antrieb, denn Werbezwecken Berühmtheit über den Kreis der Schuhliebhaber erlangt. Und der alte Arzt freute sich, als Stammkunde eingebunden zu werden. Natürlich schwiegen die Extremen nicht, wenn Jordan sich mit seinen Streitern auf den Weg machte, um an den Füßen von Obdachlosen zu beweisen, dass es nicht das Vorrecht der Wohlhabenden sei, auf maßgemachtem Schuhwerk seiner Wege zu ziehen.

Wo mag sein Leisten nun liegen? Dieses Stück kostbaren Holzes, getreues, abstrahiertes Abbild zweier unabdingbar notwendiger Körperteile. Wie faszinierend er die leblosen Zwillinge einst in dem hohen, bis an die Decke der Schuhmacherei reichenden Regal lagern sah. Spärlich beschriftet, doch Jordan, zielsicher die Leiter schiebend, fand sie stets auf Anhieb. «Schuhe fürs Leben. Mein Onkel sagte immer, was du machst, soll Wert und Dauer ausstrahlen. Aber nicht nur so scheinen, nein» – ganz gedehnt – «es soll auch so sein.» Jordan wusste nicht um die Länge oder die zu erwartende Weile, die den Menschen blieb, die er aufgesucht hatte, um ihnen Beispiele seiner Meisterschaft der Demut an Leder, Zwirn und Holz zu kredenzen. Er machte keinen Unterschied zwischen den alten Tippelbrüdern oder jungen Drogensüchtigen, als er damals seine spektakuläre Aktion in Angriff nahm. «Denkt nicht, dass ihr morgen mit einem Paar neuer Treter durch die Gegend laufen könnt. Mein Handwerk braucht Zeit.» Er konnte es sich leisten, und er leistete es sich.

Kein bloßer Altruismus trieb ihn an. Keine neue Statistik zur Lage der Ärmsten. Tief in seinem Inneren lagerte die Erinnerung an den Rumor, das aufgewühlte Herz seiner Jugend, von der Angst gespeist, die Vorstellung, er könne eines Tages durch den Verlust seiner Liebsten oder das Scheitern seiner Träume in Armut fallen und nicht mehr in Ruhe unter dem gewohnten Dach schlafen.

Er fürchtete sich damals in schweren Stunden maßlos vor der Obdachlosigkeit. Es mag an seiner Herkunft in Sicherheit gelegen haben. Sein Lebensweg verlief nicht zuletzt deswegen günstiger. Wer ihn damals oberflächlich kennenlernte, hätte vielleicht ganz zu Beginn dieses Vorgangs wirklich kurz an ihm, an der Verbindung zwischen seinem Bewusstsein und seinem regen Verstand gezweifelt, ja diese Konnexion nicht geglaubt oder gar vermutet. Sein Erscheinungsbild war das Eine, sein Verhalten ein Anderes.