Schaumbad im Himmel

Nichts wird wieder, dachte er zornig. Gar nichts. Das war das Ende. Denn Bröno war wieder da. Ohne Vorwarnung. Alle spürten es. Im PILZ war die Hölle los. Die Nachrichtenlast war um das Siebenfache im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Kampmann klinkte sich aus. Dieses Gebrüll war unerträglich. Er hatte versucht, an der Konferenz im Grand Hotel Europa teilzunehmen, nachdem das Kurhaus in Wiesbaden explodiert war. Aber in seiner Schaumkugel konnte er nirgends anlegen. Alle Raumhäfen waren geschlossen. Somit war er verdonnert, im Orbit zu zirkulieren. Ohne Sinn und Verstand, versteht sich mal wieder. Denn wie sollte er zu Verstand kommen, wenn die Liebe Gott ihm selbigen so dermaßen geraubt hatte. Und schon wieder kam es ihm vor, als sei das alles ein einziges Déjà-vu. Er erinnerte sich an die Geschichten, die sie sich im Orm-Akkumulator erzählt hatten. Die Freunde der Fährnis! Er erinnerte sich an die Exoplaneten, die sie gefunden hatten, diese Zeitlosigkeit im Reisen. Das stetige Schweben. Alles war Kino gewesen. Und bei aller Trauer über das Vergehen der Zeit: Sie waren zusammen und glücklich, oder machte er sich nur wieder etwas vor? Jetzt war das Rauschen wieder da, und er konnte nur von außen zuschauen, wie die Welt ohne ihn in Schutt und Asche fiel. Aber welche Welt das war, das konnte er nicht sagen. Er hatte schreckliche Angst davor, übrig zu bleiben.

Die Anzeichen der Zerstörung. Bröno Selfmachteger-Spretz war wieder da. Foto: Familie Kampmann

Sicher, diese Vorstellung von parallelen Universen behagte ihm ganz und gar nicht. Und mit diesem Gedanken, gekapselt in einen Augenblick der Unaufmerksamkeit, saß er in der Badewanne und starrte in das schönste Gesicht, das ihm je begegnet war. Es war die Liebe Gott, die beruhigend auf ihn einredete, dass doch alles gut werde, ohne dass er ein einziges Wort hörte. Und er dachte, das glaube ich jetzt alles gar nicht. Während draußen mein Heimatplanet von einem Nazi-Psychopathen bedroht wird, sitze ich hier im Schaumbad und starre auf diese Frau, wie ein Teenager in einen Unterwäscheversandhauskatalog. Was sind das nur für dämliche Männerfantasien? Der Wunsch als Vater des Gedankens, der Wunsch! Und der Dschinn, welcher, macht ihn wahr? Was bin ich denn für einer? Was geht in der Oberstube vor? Oberstufe? Bin ich zu viel allein? Ihm fehlte eindeutig Bewegung. Zu viel Raumschiff in letzter Zeit, und das Muskeltraining hatte er vernachlässigt, obwohl natürlich die vom Gesetzgeber und der Krankenkasse vorgeschriebenen Fitnessgeräte zum Ausgleich der Folgen der Schwerelosigkeit an Bord waren. Neulich, als er noch ein ganz normaler Typ auf dem Planeten Erde war, Teil hatte an der Umweltzerstörung, an dem Konsum, der komplexen Ambiguität, die keine Liebe Gott beseitigen wollte, da war er viel unterwegs. Er hatte einen Hund und ging täglich seine 15 bis 20 Kilometer. Oder er lief sie. Und er lief sie einfach so, grundlos und ohne Absicht, jemals irgendwo anzukommen. Das vermisste er heute. Nun musste er durch die Alpträume fiktionaler Badewannen hindurch, die mit schönsten Menschen besetzt waren, um sich dann doch wieder als Wurmlöcher in andere Universen zu entpuppen, die ihn nicht nur von sich selbst, sondern auch von der Menschheit entfremdeten.

Er hasste in seiner Bescheidenheit die Vergleiche mit Odysseus. Aber in gewisser Weise schleuderte ihn irgendetwas ja auch immer wieder fort. Nur hatte der Grieche wenigstens seine Gefährten, während Kampmann alle irgendwo unterwegs hatte liegenlassen müssen. Oder war er es, der liegengelassen worden war? Als er wenigstens noch in einer anderen Zeit herumspukte, war es einfach. Da war die Erde noch die Erde. Jetzt änderte sich alles immer und sofort. Es ist wie der Wechsel von Aggregatzuständen, dachte er bei sich. Zeitschaum eben. Besser Raumzeitschaum. Er war anscheinend mit allem und jedem verschränkt. Und dann war er mal hier, mal da. Jetzt Schönheit, Badewanne. Und dahinter war nichts. Nichts. Endlos. Ist das jetzt die Vorstufe zum Himmel? Aber warum? Er war doch gar nicht gestorben. Und vor sich die Liebe Gott, die wieder nur lächelte, gar nichts sagte und ein wenig mit dem Wasser schwappte, Blasen platzen ließ, ihn ansah, wieder nur lächelte, und er fühlte sich so beklemmt. Also anbeten kann ich sie nicht, dachte Kampmann bei sich. Das geht einfach nicht. Aber ich muss jetzt mit ihr sprechen, ich brauche Antworten. Wie komme ich aus dieser Hölle der Schönheit heraus? Es muss einen Weg geben, ich fühle, dass bald Weihnachten ist. Da muss mir doch zu helfen sein. Zu Weihnachten wird jedem geholfen. Das hatte er im Kindergottesdienst gelernt. Geholfen. Und in ihm drehte sich der Satz um, zu helfen müsste ihm doch sein, zu Hilfe! Hilfe, und, dann, dann schrie er, konnte schreien. Er krakeelte, und er schlug mit den flachen Händen ins Schaumbad, dass es nur so spritzte, und dann sah er nichts mehr, als nur graue Schlieren, denn wieder einmal hatte die Raumzeitfalle zugeschlagen, und in ihm wollte es nur Nahrung, und er schrie wieder. Es schrie wieder. Immer wieder. Es dampfte. Und es wärmte. Und: Wohlig, wollig war das dann, als sie ihn aus der Wanne hob und an sich drückte. Hielt den Hinterkopf und legte sein kleines Gesichtchen auf ihre Schulter. Und nahm das weiche Handtuch und ganz vorsichtig rieb sie ihn trocken, verpasste ihm eine frische Windel, den Strampler. Küsste seine Stirn. Da war er schon eingeschlafen. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Phil Collins, Face Value, Atlantic, Warner Communications, WEA 99 143, 1981