Teppichböden des Todes

«Famos», dachte Kampmann sarkastisch, als er mit Karsch im dunklen Flur des Hotels Europa in Zwickau an der Straße der Nationen stand und bemerkte, wie nach und nach alle Geräusche in den hinteren Bereich verschwanden. Sie gingen auf Watte, großer Watte, mächtiger Watte, brauner Watte, haariger Watte. Der Eindruck, der immer stärker wurde. Und ganz nebenbei fielen beiden Repräsentanten der RDS die Schritte schwerer. Sie glaubten, sie alterten sekündlich. Mit jedem Heben eines Beins verlangsamten sich die Prozesse der Gelenk- und Muskelarbet, und Karsch merkte an: «Kampmann, ich, äh… lange dauert es nicht, dann bekomme ich keine Luft mehr.» Die Teppichfäden wuchsen zu einem Urwald heran und herauf und um sie herum, und beide, die zur Zeitsicherheitskonferenz 1966 in die Stadt gekommen waren, kämpften sich voller Angst durch die braunen Äste und Tentakeln aus Garn in dieser menschenfeindlichen Wildnis aus Kunststoffen. «Kein PILZ», der sie Hilfe hätte rufen lassen. Stattdessen diese lebensbedrohlichen Auswüchse überall.

Hotel Europa
Das Hotel Europa, das zum Hotel des Grauens mutiert. Foto: Familie Kampmann

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Textilindustrie in Zwickau einen festen Platz in der Weltwirtschaftszone erarbeitet. Die Stadt war zwar keine Metropole mit Hochhäusern, aber mit der Hauptstadt Leipzig und der Königlichen Residenzmetropole Dresden war es neben Chemnitz eine der interessantesten Städte in dieser geografischen Besonderheit, die sich freie Aristokratische Demokratie Sachsen nannte, kurz FADS. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Land als unabhängige und neutrale Republik neben der DDR und der BRD etabliert und war überall anerkannt, und den monarchischen Fimmel von Bewohnern und Regenten nahm ihnen keiner wirklich krumm, obschon es kein Königshaus mehr gab. Aufgrund der hervorragenden Voraussetzungen konnte dieser dritte deutsche Staat nicht nur existieren, sondern auch florieren. Und Zwickau im Südwesten des Staats besaß eine rege Kulturszene, die immer Ausdruck des bürgerlichen Wohlstands ist. Ja, Wohlstand gab es hier reichlich. Es hatten 27 Prozent aller Millionäre Europas in Sachsen ihren Hauptwohnsitz. Und nun dies.

Die Konferenz war dem Themenfeld «Zeit und Verschleiß» gewidmet. Am Rande trafen sich Kampmann und sein Boss Dr. Holger Karsch, um neben dem offiziellen diplomatischen Einerlei konspirativ die Suche nach Büttner zu planen, der sich wieder einmal nicht über PILZ und über all die anderen bekannten Kanäle gemeldet hatte oder melden konnte. Konferenzen wie die Zeitsicherheitskonferenz sind bekanntermaßen ein Tummelplatz für Spione, Agenten und allerlei andere Schergen, die geheime Agenden verfolgen. Sie waren in der Hotellobby Eva Laszlo Platz begegnet, von der jeder wusste, dass es ihre Bestrebung war, die FADS durch ihre Domino-Bewegung kollabieren zu lassen. Sie hatten am ersten Tag in einer Art Putzkammer den ehemaligen Gulag-Aufseher Valdomilz Punktin im scheinbar tarnenden Dress einer großen westdeutschen Facility-Management-Firma beobachtet, wie er dort Uzis und zwei Panzerfäuste verbarg. Sie warnten den Zwickauer Polizeipräsidenten vor Don Fredosantos Escobal de los Rios Pejotes, genannt Santos Mescal, der mit einem Bataillon von Fake-Journalisten, allesamt equipiert mit FN P90, angereist war. Alles Schreckliche, was man sich denken konnte, war da. Und nun sollten sie ihre Aufrichtigkeit mit dem Leben bezahlen?

Und Karsch quälte sich mit Kampmann durch den massiv mutierten Hotelgang, nachdem sie alle verdächtigen Subjekte der lokalen Polizeibehörde gemeldet hatten. Dennoch lief es bei den beiden extrem schlecht. Der Tod war ihr ständiger Begleiter; gewiss, sie wussten, worauf sie sich eingelassen hatten, doch der Mitnahmeeffekt war zu groß. Kampmann hatte seine «Leviathan»-Lektüre mittlerweile vollkommen vergessen. Draußen wimmelte es von Terroristen und Gangstern, und die beiden befanden sich in dem jämmerlichsten aller denkbaren Zustände. Büttner war immer noch nicht aufgetaucht, Dr. Holger Karsch konnte Kampmann nicht helfen, und Kampmann konnte Dr. Holger Karsch nicht helfen. Beide waren hilflos, und die RDS schien kopflos geworden zu sein. Ein Schrei aus der Tiefe. Hier waren sie gefangen in den Nesseln der Garnspinnereien. Und sie wussten nicht einmal, wer ihnen diese Falle gestellt haben könnte. Es war wieder einmal das Hotel Europa, diese Spionage- und Mottenburg. Dort wo alle sich trafen und gelegentlich einer umkam. Es schienen heute zwei zu werden. Denn in jenem Flur des unausgesprochenen und unaussprechlichen Horrors galten die Gesetze der irdischen Natur und des Kosmos nicht mehr. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Severed Heads, The Big Bigot, Ink Records, INK 22, 1986.