Wilde Äpfel

Röte legte sich über das Tal. Perry, der Husky, genoss den Tagesausklang auf der Sandsteinterrasse. Der Hund gähnte wohlig, schnappte sich dann ein Stück Elchgeweih und knabberte ein bisschen unmotiviert darauf herum, bis er das Zahnputzwerkzeug wieder fallen ließ und weiter döste. Kampmann rauchte mit Maurizio am Gartentisch eine Romeo y Julieta. «Weißt Du, Kampmann, diese ganze Schieberei der Nachrichtendienste geht mir gehörig auf den Senkel. Ich will mittlerweile nur noch meine Ruhe haben. Zum Glück hat mich Karsch hier in die Pampa versetzt.» Kampmann wunderte sich ein wenig. Er dachte, dass gerade Maurizio einer derjenigen war, die sich ohne Vorbehalt und Rücksicht auf sich der Sache widmeten. «Versteh’ mich nicht falsch, Kampi, aber ich habe ein wenig den Eindruck, dass der Organisation der rote Faden abhanden gekommen ist. Dauernd müsst Ihr Temponauten die Arbeit der Zeitmechaniker übernehmen. Ihr kommt nicht mehr zur Ruhe. Das kann zum Problem werden.» «Da muss ich Dir Recht geben, lieber Maurizio», kommentierte Kampmann. «Es ist außerdem extrem gefährlich geworden. Wenn Du als Dude und Drifter dich von den Höhen der Bajuwarischen Wudangshan aufmachst, wenn du den Berg hinab steigst, durch Felder des Nebels gehst und die Düfte der Bäume in dich aufgesogen hast, könntest du die Welt sehen, wie sie sein könnte», beschrieb der Temponaut seine Gefühle, die ihn jetzt, als er endlich nach gefühlten Jahrtausenden innehielt, überkamen. «Ich habe sie gesehen. Ich verliere sie.» Mit einem tiefen Seufzer presste Maurizio seinen Rücken gegen die Lehne des unbequemen Stuhls. «Siehst Du, das meine ich. Auch ich habe das Schöne gesehen, das Du gesehen hast. Und denkst Du nicht auch, dass es einem Dude wenig ansteht, nach dem Ansichtigwerden weiter zu hetzen, so, als wäre man Bestandteil dessen, was die RDS letztlich befrieden will?»

Genetische Botschaften in Pflanzen kodiert. Foto: Familie Kampmann

Kampmann ließ sich auf die Wechselrede ein. Denn das war so oft schon ihrer beider Weg zur gemeinsamen Erkenntnis gewesen. Kampmann und Marizio: wie zwei Gedankenhebammen. «Doch, das denke ich.» «Und denkst Du nicht, dass wir als Gesellschaft sehr darauf achten sollten, dass wir mit der Umwelt, also der Ökosphäre und der Zeit, der Temposphäre im Einklang sein sollten.» «Auch das denke ich, bester Maurizio.» Kampmann nahm einen tiefen Zug an der Zigarre und ließ ihn mit voller Wucht in die Lungen strömen. Ihm wurde beinahe schlecht, aber welch köstlicher Schwindel ihn wenige Sekunden danach überfiel! «Also wäre es doch nur gerecht, wenn wir daraus die Konsequenzen zögen und weniger Fälle für unser aller Wohlergehen lösten, oder nicht?» «Doch, lieber Maurizio, und auch in diesem Sinne folge ich Deinen Gedanken und Auffassung sowie Einschätzungen der Lage in vollem Umfang.» «Weißt Du, der alte Thoreau hat einmal einen Essay über wilde Apfelbäume geschrieben. Malus sieversii. Er schrieb: ‹Almost all wild apples are handsome. They cannot be too gnarly and crabbed and rusty to look at. The gnarliest will have some redeeming traits even to the eye.› (Henry David Thoreau, Collected Essays and Poems, New York (Library of America) 2001, S. 461). Und so ist es doch. Das ist es: zu sehen, zu finden, und die Fülle in sich aufnehmen.» Darauf Kampmann: «Schon, aber was ist mit dem Alltag? Der ist nun einmal durchsetzt mit Problemen. Du kannst nicht immer nur die knorrigen Stämme Deiner Olivenbäume anschauen, Du musst irgendwann im Jahr ernten und die Ernte zur Mühle fahren.» «Werter Kampmann, wie Recht ich Dir gebe, aber das meinte ich nicht. Um Dir das Eigentliche zu erläutern, lass uns mal eben einen Blick in die GenCodes in der Feige werfen. Ich bin sicher, Du kennst Dich noch nicht so wirklich damit aus, oder?» «So sieht es aus. Gehen wir es an.»

Nun griff sich Maurizio das Opinel von Kampmann und schnitt eine Feige in der Mitte entzwei, nachdem sein Gast die Ernte aus den Nachrichtenbäumen auf einem kleinen Tellerchen serviert hatte. «Wir verspeisen alles nachher, damit wir keine Spuren hinterlassen. Die Zeitnazis können aus Deinem und meinem Stuhl keine Sinnfragmente mehr derivieren. Gleich werde ich die Karaffe nachfüllen, so dass wir es uns beim Lesen der Botschaften gemütlich machen können.» Und so machten Sie sich an den Früchten zu schaffen. Und schon bald lag der Text klar und deutlich, aber auch unmissverständlich rigoros vor ihnen. Und Perry gähnte. Wieder einmal. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: The Durutti Column, Valuable Passages, Factory (Fact 164c), 1986