Der innere Feind

Die «Hermeneutischer Zirkel» saß bei der kleinen Ziege fest. Der Antrieb hatte unvermittelt ausgesetzt. Brand war irgendwann zusammen mit der Kapitän in die Messe gekommen und hatte Cat und Bina abführen lassen… «Ihr seid am Ende. Es reicht. Euer Defätismus verdirbt die Mannschaft.» … wollen. Cat war kurz zuvor vom Klo zurück gekommen und hatte mit Bina über die verzweifelt anmutende Lage spekuliert. Danach, davor und dabei waren sie natürlich schon längst wieder in ihre Arbeit versunken. Sie hatten allerdings beide nicht damit gerechnet, dass der Oberzensor des Schiffs die oberste Schiffsleitung gegen sie aufbringen würde. Dennoch: Arbeit rechtfertigte an Bord bekanntermaßen alles. Und Cat tippte schnell ihren Job-Code ins System und schob dann gleich Bina als Assistentin dazu, gerettet. Nun klang ihnen trotzdem ein trauriger Neil Young («Barn») vor dem geistigen Ohr. Ganz zu schweigen von dem davor gelauschten Album «Wish you were here» von Pink Floyd, dann aber Brahms, und wie wir im Folgenden weiter hören werden, schießt sich alles auf Thomas Dolbys Frühwerk ein. Aufs Ohr, aber heftigst. Und über den Weiten des Alls schien sich ein stummer Schrei aus beiden Seelen wie ein Regenschirm aufzuspannen, um gegen das Unheil aus Sternenstaub, das über den gesamten Quadranten gekippt wurde, Schutz aufzubieten. Dreißig Minuten vorher: «Hey Bina, was lässt Dich ergrauen?», spöttelte Brand. «Die Haare, Du Trottel», retournierte sie spitzfindig mit den annähernd getreuen Buchstaben des wackeren Julius Wilhelm Zincgref, mit denen er von seinen schlauen Zeitgenossen aus dem 17. Jahrhundert irdisch-europäischer Zeitläufte berichtete. Wir können es noch heute lesen, wenn wir denn lesen können.

Eigentlich sollte die Crew der «Hermeneutischer Zirkel» den Hyadenstrom erkunden. Denn im Sternbild des Fuhrmanns waren noch etliche galaktische Geheimnisse zu lüften. Die dortigen Sternenströme konnte man sich selbst zu dieser Zeit des technologischen Fortschritts noch nicht erklären. Es waren so viele da draußen, aber da das Verhältnis zwischen den fünf kardinalen Kräften1 im Universum noch nicht geklärt war, und die Relation zwischen dunkler und heller, brauner und Frankfurter grüner Soße sowie anderer Materie noch relativ unbekannt war, schien es unabdingbar zu sein, ein Forschungsschiff zu entsenden, zumal dieses Quadrupelsystem nur zirka 43 Lichtjahre von der Erde entfernt liegt – bis heute übrigens. Man gedachte, auf der «Hermeneutischer Zirkel» dem Wesen des Seins näher kommen zu können. Kaum bessere Bedingungen für ein Forschungsschiff wie dieses. Kaum ein besseres Werkezug als dieses. Kaum eine bessere Crew als diejenige, die das Glück hatte, mit Cat Tschippitea und Bina Femaroll ihre Heuer zu beziehen. Da allerdings bei allen Forschungsvorhaben aufgrund der permanenten Bedrohung durch die Zeitnazis um Bröno Selfmachteger-Spretz mittlerweile das Bundesministerium des Inneren und das Verteidigungsministerium ein Wörtchen mitzureden hatten, setzte man kurzerhand Ministerialputzhauptmann Horst Brand dazu ein, um darauf zu achten, dass die Mission nicht gefährdet werden würde. Er war ja buchstabengetreu ans Dreh- und Logbuch gebunden und einer der letzten Vertreter der alten, chauvinistischen Männchen, die immer wieder von ihren wahnwitzigen Abenteuern und Kämpfen gegen Besenstiel und -kammer daherreden mussten, leider ohne jemals die Kratzer abbekommen zu haben, die sie ihren Hämorrhoiden andichteten. Ja, ja, das Sitzfleisch ist geduldig wie Papier, wenn man nur fleißig die Stellung zu halten versteht, aber bitte maximal in der Etappe. Seine Devise: «Bin ich im De-Enn-Vau, juckt mir kein ZEH.» Diese hatte er, obschon es sich weder reimte noch sonst irgendwie Ordnung erkennen ließ, aus der man etwa Energie hätte gewinnen können, in die Kombüse und sämtliche gemeinschaftlich genutzte Aufenthaltsräume tapeziert. Ein Graus.

«Weißt Du, was ich vermute?», fragte Cat. «Das alles hier, die Antriebslosigkeit, diese bleierne Stagnation, die Unbeweglichkeit haben wir Brand zu verdanken. Diese Texte! Diese Slogans! Überall dieses schlechte Deutsch! Das kann ja nichts werden. So kommen wir niemals voran. Weder erreichen wir so Bremen noch Schkeuditz oder sonst eins der Ziele, die programmiert wurden.» Sie standen an den Bullaugen vor dem Maschinenraum und rauchten. «Ich werde gleich noch mit dem Junktivfusionator einen Probelauf fahren. Wahrscheinlich stimmen die Grade der Valenzen nicht. Daher schlagen die Verben nicht planmäßig in die Fusionskammer und dann gegen ihre Ergänzungen. Das heißt: keine Sätze, keine Energie.» «Und wir müssen herausfinden, wer von der Besatzung ein Homo numerus ist», ergänzte Bina. «Brand ist sicher einer. Ich habe ihn neulich in der Ecke im Mannschaftswaschraum bei den Sportanlagen an einem Waschbecken stehend entdeckt. Da sah ich, wie er die Wörter, die er im Gym zuvor auf dem Lieferschildchen des Kastens mit den Medizinbällen abgelesen und auswendig gelernt hat, zählte. Und da es von den Duschen neblig war, konnte er auf die Spiegel eine Matrix aufzeichnen. Stell’ Dir vor, dass er ein Reifegradmodell für die syntaktischen Zahlenverhältnisse aufgestellt hat. Das ist manisch. Das ist numerisch. Super sick. Wir müssen aufpassen. Wenn Brand einer der Verrückten aus der Gruppe dieser Algokraten ist, können wir einpacken. Denn ich sage Dir, das ist der eigentliche Feind. Da kommt noch etwas auf uns zu. Mit den Zeitnazis werden wir schon fertig. Aber ob wir den inneren Feind zur Strecke bringen?» Cat schüttelte bedächtig den Kopf. «Aber warum setzt uns unser eigenes Innenministerium diese Laus in den Pelz?» Sie verstummten. Das nun dreißig Minuten danach.

Cat öffnete die Lexikalkammer. «Zieh den Kopf ein, Bina. Es wird von hier ab recht eng.» Sie zwängten sich in den Maschinenraum. Es roch nach Staub und vergilbtem Papier und ausgebranntem Feuer. Überall auf dem Laufrost lagen Flocken dunkelgrauer Brandreste. Kein Zweifel, hier hatte jemand sabotiert und gewütet. Verkohlte Bleistifte schienen aus den Wänden heraus explodiert zu sein. Das komplette Chaos. Streben sonderten glühend Hitze in warmen Rottönen ab. Überall glommen kleine Papierhäufchen. Es war an dieser Stelle eng wie im Mäusegang eines U-Boots. Der Weg weitete sich, der Anblick des Verderbens blieb. Und plötzlich, aus heiterem Himmel begann sich der Raum um beide zu drehen. Die Energie von russisch Brot und Buchstabennudeln formte sich zu einem Strom aus feuriger Asche, die tiefblau glühte, ohne jedoch Hitze zu entwickeln. An den Rändern der Flocken flimmerte es, und der gesamte Maschinentrakt schien sich in Energie auflösen zu wollen. «Ach Du heilige Schrift!», stoßseuzfte Bina hustend. «Das magst Du wohl laut lamentieren», erwiderte Cat. Die Atemluft schien immer noch voller Rauchpartikel zu sein, und es kratzte beiden in den Hälsen. Und dann sahen sie, wie sich der blaugraue Strom um sie beide immer schneller zu drehen schien und mit einem Plopp, der sich anhörte, als hätte man mit dem Feuerzeug eine Flasche Bier schwungvoll mit Schmackes entkront2, hatte es sie entmaterialisiert, und mit dem klassischen Quantenquark als Beschleunigermedium landeten sie in den Sesseln der Kommandozentrale des schnellen Raumgleiters 耳の神様. Nun gut. Das war dann recht erstaunlich. Doch weder Cat noch Bina hatten viel Zeit, sich einzugewöhnen. Jetzt war ihre volle Aufmerksamkeit gefragt, denn sie befanden sich inmitten einer … [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Johannes Brahms, Sonates op. 120 No. 1 & 2, Gérard Caussé (Viola), François-René Duchable (Bösendorfer), Radio France/Erato STU 71547, aufgenommen Januar 1984, Chartreu se de Villeneuve-lès-Avignon; Thomas Dolby, The Golden Age of Wireless, Spring Issue, EMI/Venice in Peril Records, 1981, LC0542, 1A 064-07607

[1] Zur Erinnerung: Es handelt sich um die starke und schwache Wechselwirkung, die Gravitation, den Elektromagnetismus und den Orm.

[2] Zeitlupe. Der Kronkorken in Nahaufnahme trudelt, sich um die eigene Achse drehend, im All. Sternenhimmel, aber dezent. Dazu wie in 2001 von Stanley Kubrick, dem unerreichten und besten aller Science-Fiction-Filme aller Länder, Epochen und Welten, der Walzer von der Blauen Donau, Johann Strauss jun. hatte den bekanntermaßen 1866 in die unendlichen Hitparaden geschossen. Und nicht Richard Strauß‘ «Also sprach Zarathustra», wie man vielleicht vermuten könnte.