Satt

Er hatte diese Melodie im Kopf. «Ich bin zwar nie im Krieg gewesen, doch die Felder sind gemäht.» Woher kam das? Damals, ganz weit hinten im Regal seines Selbst spielte er mit kleinen Soldaten im Maßstab eins zu zweiundsiebzig. Natürlich war er viel zu klein, um zu verstehen, was das meinte. Die Kornfelder rochen wie heute, und die Landschaft war so weit. Er dachte sich in die endlosen Getreidewüsten irgendwo im Osten. Das hatte er auf schwarzweißen Fotografien in den fürchterlichen, damals noch fantastisch-spannenden Büchern gesehen, die auf irgendeinem, nicht erklärten Weg in Großmutters Buchbestand kamen. «Von Lemberg bis Bordeaux» war so ein Titel. Wie der Krieg wirklich riecht, das will heute niemand wissen. Nicht hier. Es war schon spannend genug, daran zu denken, als er im Garten den Wein beschneiden musste. Aber das hatte er ganz schnell wieder vergessen. Neulich fuhr er in Richtung der tschechischen Grenze. Die Landschaft der Oberpfalz ist in bestem Sinne eine wellige, kurvige Beauté. Und dann noch ein Ort namens Schönsee. Hier gibt’s keinen Lidschatten oder geschminkte Scheinschönheiten mit Lüftelmalerei, sondern ganz einfache Behausungen. Und wäre da nicht das Motorrad… Nun gut, fort mit der Romantik. Jetzt im Hochsommer sind die Bilder stark, und es duftet von Kilometer zu Kilometer anders. Oft fühlt es sich an, als wären keine 77 Jahre vergangen. Ich bin zwar nie im Krieg gewesen, doch die Felder sind auch in der Oberpfalz wieder gemäht. Der Mais geht ins Biogas oder ins Viehfutter, und das Korn? Vielleicht wird es Bier. Es wird Viehfutter, alles wird Rind, Schwein, Menschenfutter. Das Kilo zu 5,98. Darf’s ein wenig mehr sein? Heute, denkt er, machen wir den Hungerkrieg. Sein Leben lang hat sein Land den Hunger gemacht. Und den Krieg. Eine Gemeinschaftsarbeit. Jeder war dabei. Jeder ist dabei. Schmeckt’s denn? Ich bin zwar nie im Krieg gewesen. Doch die Felder sind längst gemäht. Der Erntedank. Nicht wie in Verdun, wo man sie zählen kann. Nicht so wie in Arlington. Der Schnitt sitzt immer. Und geht schnittig in die richtigen Taschen. Alle haben diese Melodie im Kopf.