Draußen, wenn es kalt ist

Wintersonnenwende

Ich schreibe meine Packliste fertig, um sicher zu gehen, dass ich nichts vergesse. Dann packe ich alles zusammen in den großen Rucksack. Der Mittlere ist zu klein. Der Winterschlafsack ist zu voluminös. Schnell ist das Wenige, dass ich mitnehme, verstaut. Noch ist es hell. Noch gehe ich nicht los.

Die Stunden ziehen vorüber. Wir bestellen eine Pizza. Hastig, wie immer, verschlinge ich sie. Heute, weil ich danach los will. Ich finde immer einen Grund mein Essen zu schlingen. Mittlerweile ist es dunkel.

Schnell die Wintersachen an, auch die wärmende Funktionsunterwäsche. Ich denke noch, dass habe ich sonst anders gemacht. Dann gehe ich los. Durch die kleine Grünanlage zum Kirschenpfad. Dort brüllt mich ein Scheinwerfer an, der durch einen Bewegungssensor von mir ausgelöst wurde. Kurzzeitig sehe ich den Weg besser, als ich es zuvor tat.

Der Weg zieht sich. Ich versuche mich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Die Wegführung kenne ich. Ich bin ihn erst vor wenigen Tagen abgelaufen, auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für das Wintersonnenwendecamp.

Der Mond, die Lichter der Stadt und die Scheinwerfer der Autos machen es meinen Augen schwer, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann, etwas ungewöhnlich, so im dunkeln, werfe ich einen Schatten voraus. Ich drehe mich um und sehe in einen Flutlichtstrahler, den ein einsamer Radler an seiner Stirn befestigt hat. Stumm radelt er an mir vorbei.

Bald, denke ich, biege ich rechts in den Wald ab, dann lasse ich die Stadt und die Lichter hinter mir. Dafür geht es jetzt stetig bergan. Ich beginne zu schwitzen. Und jetzt weiß ich, wie ich das sonst mache, mit der warmen Unterwäsche. Heute schwitze ich sie voll und hoffe, dass sie rasch trocknet, bevor ich damit in den Schlafsack krieche. Sonst habe ich Funktionsunterwäsche als Wechselwäsche für die Nacht mit dabei.

Nach einer Stunde bin ich an der Schutzhütte. Kurze Orientierung auf der Karte, das Display des Taschentelefons leuchtet mich an. Ich präge mir die letzten 500 Meter Weg zum Lagerplatz ein. Muss dennoch Kontrollblicke aufs Display richten. Ich krame meine Stirnlampe aus dem Haversack. Der Haversack ist ein Geschenk der Hidden Woodsmen und leistet mir treue Dienste. Die Kombi großer Rucksack und Haversack kann ich jeden empfehlen. Optimale Gewichtsverteilung und zusätzliche Staufläche für Dinge, die man schnell zur Hand haben möchte. Mein Bärenmesser ist so ein Ding.

Gefühlt müsste ich jetzt links ab, den Weg verlassen, und mich durch den Wald zum Lagerplatz schlagen. Im Dunkeln finde ich nicht gleich die richtige Stelle. Ich verlasse mich auf meine Intuition und siehe da, vor mir taucht der Lagerplatz auf. Einsam und verlassen. Meine Befürchtungen, dass hier neuheidnische Esoteriker, Neo-Schamanen oder Bröno und seine Nazi-Kumpanen rumlungern, waren umsonst. Ich habe den Platz für mich alleine.

Als erstes die Hängematte aufspannen. Schlafsack und Wolldecke in die Matte. Rucksack und Haversack mit Karabinern an den Hängemattengurten befestigt. Dann die Filzmatte auf den nahen Stein gelegt. Hinsetzen. Heisser Tee. Whisky. Glenfarclas. Fünfundzwanzig Jahre. Wohltuende Wärme. Schluck für Schluck.

Derweil trocknet die Funktionsunterwäsche am verschwitzten Leib. Der Tee zögert das Frösteln heraus. Es ist kalt. Unter Null. Der Mond zeigt sich am Himmel. Er wird sich die ganze Nacht bemühen, meinen Schlafplatz auszuleuchten.

Der Tee ist getrunken. Vom Glenfarclas lasse ich köstliche Tropfen im Flachmann. Für die Nacht.

Ich steige in den Schlafsack, die Hängematte goutiert das mit wildem Schaukeln. Fast falle ich heraus. Alles, bis auf die Schuhe, lege ich in die Matte. Auch das Bärenmesser. Mütze und Nackenwärmer lasse ich an. Ebenso die Funktionsunterwäsche. Jetzt liege ich da, starre den Mond an. Es ist totenstill. Windstill. Hier und da ist ein Flugzeug zu hören. In der Ferne. Um 22 Uhr ist auch kein Flugzeug mehr zu hören. Nachtflugverbot. Die Startbahn West haben wir nicht verhindern können, aber ein Nachtflugverbot erstritten. Stiller Triumph.

Ich spüre die Kälte durch die Hängematte, durch den Schlafsack, durch die Funktionsunterwäsche. Deutlich. Ich lausche in den Wald. Nichts zu hören. Schwarz zeichnen sich die Baumskelette gegen den Mondlichthimmel ab. Anfangs stündlich, dann halbstündlich, wechsele ich die Seite, auf der ich liege. So kann sich jede Körperseite immer wieder aufwärmen. Kein Tiefschlaf. Totenstille. Angestrengt lausche ich in den Wald. Totenstille. Kahle Bäume. Felswand.

Der Platz erwies sich als ausserordentlich geeignet für die Wintersonnenwende. Still soll alles stehen, bis das neue Jahr beginnt.

Ich bin an einem Ort, den keine Wildsau aufsucht, an dem sich kein Fuchs einfindet, um zu schreien, wo kein Käuzchen ruft und kein Reh stumm die Flucht ergreift. Die Stille macht es sich in meinem Kopf gemütlich. Genügsam wechsele ich im Takt die Liegepostion in der Hängematte. Mal vergrabe ich mein Gesicht im Schlafsack, mal blicke ich zum Firmament. Der Mond hat alles im Griff. Kein Stern lässt sich erblicken. Was für eine stille Nacht, denke ich. Und nur das denke ich.

Um Fünf stehe ich auf. Pinkelpause. Auch ausserhalb des Schlafsacks ist es totenstill. Nur das Rauschen des Urinstrahls ist zu hören. Dann liege ich wieder im Schlafsack.

Die Nacht geht über in den frühen Morgen. Die Temperaturen sind weit unter Null. Kalt ist es im Schlafsack, aber aushaltbar. Dennoch stehe ich auf. Es ist sechs Uhr.

Jetzt bemerke ich, dass ich die Teebeutel vergessen habe. Nichts ist mit heissem Tee zum Aufwärmen. Schnell die Sachen zusammenpacken. Dann losgehen. Gehen wärmt. Denke ich. Dann sehe ich den Großen Wagen. Also doch. Der Mond hat nicht alle Sternbilder überstrahlen können.

Raureif hat alles überzogen. Welkes Laub am Boden, Bäume, den Weg, Gras und Sträucher.

Ich habe die Strinlampe an. Im Flutlichtmodus. Wie der Radfahrer gestern. Jetzt nur nicht stolpern und verletzt im Wald rumliegen. Das wäre blöd. Den Hausberg umrunde ich, um dann wieder bei der Schutzhütte anzukommen. Schnurstracks bergab. Ich mache Fotos vom Wald, den ich mit meinem Flutlichtstrahler anleuchte. Im Tal einige Fotos vom zarten Sonnenaufgangslicht. Dann schalte ich die Stirnlampe aus. Ich bin wieder in der kleinen Grünanlage. Es ist jetzt schon halb acht. Kids treffen sich bei einer Parkbank und veranstalten ein Saufgelage. Babytrinkerparty denke ich. Wird wohl der letzte Schultag vor den Winterferien sein.

Mit jedem Schritt wird das Denken aktiver. Nimmt der Lärm im Kopf zu. Wird die Stadt lauter.

Ich überquere die Straße und kurz vor der Kirche, deren Glockengeläut mich in den Wald begleitete, höre ich den Bussard. Wie sonderbar.

Soundtrack: Björk, It’s Oh So Quiet, Post, One Little Indian Records, 1995