Spiegel der Umstände

Mein Name ist Holger Karsch, und ich bin Medizinhistoriker und -journalist. Ich habe mich auf Orthopädie spezialisiert und kann angesichts der verrottenden Schreibtischstuhlgesellschaft wunderbar davon leben. Ich sehe eine Menge Details bei den Menschen. An mir ist ein exzellenter Kunsthistoriker oder Privatdetektiv verloren gegangen. Aber was tut man nicht alles für den schnöden Mammon. Absätze sprechen beredt das Vokabular ihrer Besitzer. Ich sehe die Rücken- und Haltungsschäden. Wer sich plagt, beim Gehen. Das sieht man doch. Wäre es den Menschen recht, dass ich ihre Fußbekleidung wiederherstellte, wenn sie wüssten, was ich weiß? Ich sehe außerdem das Offensichtliche: wer seinen Dingen Würde zuspricht und sie regelmäßig pflegt. Nein, nicht nur putzt, sondern pflegt. Es ist ein bedeutsamer Unterschied. Ich rieche die billige Chemie preisgünstiger Putzmittel, und ich bemerke, wenn Menschen ihre ledernen Schätze so lange hüten, bis wirklich nichts mehr zu retten ist. Allerdings ist es traurig, mit ansehen zu müssen, dass gerade Menschen mit weniger Einkommen immer mehr auf Kunststoffe übergehen müssen. Lederschuhe, so hat es den Anschein, sind nur noch etwas für reiche Menschen. Und dann kommt bisweilen die Verzweiflung, wenn nicht einmal mehr die Sohle zu retten ist. Aber was kann man denn schon tun? Am liebsten montierte ich Material aus Autoreifen, doch woran soll ich das robuste Material befestigen? Also erhitze und klebe ich, solange es eben geht. Das Schuhwerk ist der Spiegel der gesellschaftlichen Zu- und Umstände der Menschen.