Elend

Kampmann träumt. Er steht auf einer Wiese und betrachtet die hübsche Gegend, die er wie jeder Mensch als sehr angenehm, schmeichelnd, schön empfindet. Hier ist es grün, soweit das Auge reicht. Hier ein Heuschober, da ein Baum, und über allem ein schöner blauer Himmel mit so vielen weißen Schäfchen darin. Kampmann spürt er ein gewisses Unbehagen. Dafür hat er keine Erklärung. Und plötzlich, als kämen sie aus dem Inneren des Planeten, so, als seien sie Pflanzen, wachsen aus dem Rasen seltsame Figuren. Sie werden. Sie werden vor allem größer und größer und mehr und mehr und sind dann ca 1,80 Meter groß. Alles mit Plus und/oder Minus. Und das dann bis zu Horizont und bis kein Grün mehr zu sehen ist. Dann erkennt Kampmann mehr. Er sieht die Züge ihrer Gesichter. Er sieht die Augen des Leids. Er sieht die Ukraine im Donbass. Er sieht Syriens Norden, die Syrer von Idlib. Er sieht den Jemen, er sieht Mütter Israels und Mütter Palästinas. Er sieht die spielenden Kinder im verminten Myanmar, in Nordkorea. Er sieht Leidende in Bangladesch, ihren stummen Aufstand. Er sieht Inuit, er sieht die Qualen der Uiguren, der ungezählten Völker, die bedroht sind. Er sieht plötzlich das alles, was er sieht, nicht weniger als eine große Parade des Schmerzes ist wahr. Da ist die Geschichte noch längst nicht vorbei. Denn er sieht ihre Gesichter, und er fühlt, was sie fühlen, und er weiß, dass vieles nicht richtig ist, was hier abgeht, und das hat nichts mit dem blöden Bröno zu tun. Seine Gedanken zentrieren sich um diese Menschen, die ihm eben ihre Namen mitteilen. Sie flüstern die Namen, weil sie sich nicht mehr trauen. Und diese Namenflüsterei nimmt kein Ende. Und er weiß, hier geht es nicht mehr um die Zeitnazis. Hier geht es vielmehr alles, das Abgründige, das Undemokratische. Er war immer so naiv gewesen zu glauben, dass sich alles mit Gesprächen einrenken würde. Dann kam die Technik, und er glaubte, dass mit Technik alles zu erledigen sei. Doch dies war ein Trugschluss. Jetzt stellt er sich vor die Menschheit, er beobachtet sie, er leidet mit ihr. Das jedoch tut der Wirklichkeit keinen Abbruch. Sie war, wie sie war, ist und sein wird, tautologisch, ungerecht, unverständlich, und doch ist sie so einfach, dass selbst ein kleiner Mensch wie Kampmann mit einem Blick versteht. Sein Weg ist ok. Er ist ok. «Büttner, lass uns weiter machen. Es tut ja sonst keiner. Lass uns einfach weitermachen», sagt er müde.


Dann wusste er wieder, wo er war. Er sah sich um, kramte sein Zeug zusammen, huschte schnell ins Bad. Hier oben, direkt unter den Balken auf der rustikal eingezogenen Etage ließ es sich hervorragend schlafen. Das hatte Maurizio wunderbar eingerichtet. Man war weitgehend ungestört. Und es duftete nach Holz. Nach und nach schob sich die Erinnerung vor die grenzenlose Trauer des Traums. Er zog sich an, wählte die leichte Kampfkombination von Dainese mit Antigrav und Reflektorpanoramaschild. Dann ließ er sich fluffig wie eine Schäfchenwolke die Galerie herabschweben und begab sich auf die Suche nach Kaffee. Perry schnüffelte an seinem linken Bein, während er in der Küche die La Pavoni in Gang setzte. Der Duft der Bohne verbreitete sich im Raum, und Kampmann schlenderte lässig, die Zigarette auf den Lippen, mit zerknautschtem Antlitz und dem Doppio in der Hand auf die Terrasse. Er roch in den Morgen hinein. Es ist kühler geworden, dachte er. Der Herbst neigt sich dem Ende entgegen. Winter kommt, Wunder vielleicht auch. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: David Bowie, ★ (Blackstar), ISO Records, 88875173871, 2016