Cosimo Distratis

Etwas mehr als ein halbes Jahr war vergangen. Sie waren zu Hause. Nicht im Haus, aber wieder zurück. Sie wussten, dass es nicht mehr so weitergehen durfte wie in den vergangenen Wochen, Jahren, Lichtjahren? Ihre Ängste, ihre Befürchtungen hielten sie auf Trab. Dachten sie zunächst, die schlimme, schöne Reise wäre vorbei, diese Havarie, die nicht enden wollende Vorstellung, von allem Menschlichen und Irdischen für ewig abgeschnitten zu sein, wurden sie schnurstracks eines Besseren belehrt. Nicht, dass sie unbehaust gewesen wären. Es war beiden eine andere Gefühlslage, in der sich ihre seelische Witterung eingeregnet hatte. Die Isochimenen zwischen den Orten, auf denen sich punktuell ihr Mäandern manifestierte, das glich doch eher einem Gewürfeltwerden, das in einer für Menschen nicht vorstellbaren Kosmographie kein Muster ausbildete, sondern vielmehr an das nervöse Zickzack von Nadelschwüngen eines Graphen erinnerte, der metallisch kratzend Tintenspuren auf Endlospapier schreibt. Manche würden es in Richtung Lügendetektor gedacht haben. Jedoch es wetterte im Innern. In Bina wie Cat hatten sich Wolkenberge kumuliert und nimbiert. Der Ausbruch schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Der linearen, in die sie wieder eingefangen worden waren. Aber es brach sich nicht Bahn, denn das Staunen über das, was war, vergrößerte sich von Blick zu Blick.

Denn während sie fort gewesen waren, hatte sich eine Menge verändert. Die Maschinen waren selbstständiger geworden und hatten gelernt, wie sie die Biologischen einfach an die Kandare nehmen konnten. Das war ein Ausstiegspunkt für einen Moment, in dem sie gerade erst wieder zurückgekehrt wären, wenn. «Wie können wir mit denen friedlich koexistieren», fragte Bina ohne ein Fragezeichen hintanzuhängen. Beide waren nach langem Schlaf erwacht und saßen in der Küche beim Kaffee. Krümel von den freudig genaschten Madeleines ziselierten in verhaltener, rücksichtiger Leisheit ein Sternbild auf die kühlfunktionale Tischplatte. Cat wusste darauf genauso wenig eine Antwort zu geben wie ihre Lebensgefährtin. Was sie sahen: Alles wurde allen zu viel. «Niemand kann das alles verdauen. Sie fluten unsere Zonen der Freiheit mit ihrem Nonsense, der sich wie echte Geschichten liest, das aber mitnichten zu sein pflegt.» Wie immer hatte Cat vollkommen recht. Doch der Kamin brennt. Und man kann immer und überall erzählen. Es hat sich eine Menge verändert über die Äonen hinweg. Die Raumfahrt ist nicht mehr das, was sie einmal war, denn wir erleben, dass alle Illusionen rund um das Aufheben der Dilatationen solche sind: Illusionen. Und während die Reisenden jung bleiben, sterben die Sonnen der Planetensysteme ihrer Herkunft, Ausdehnung des Universums hin oder her. Wir wissen nicht mehr, wo wir sind, was wir sind und in welche Richtung uns etwas tragen wird, was wir damals nur von Ferne sahen. Der Kaffee war das Beste der Rückkehr, dachte Bina. Auch die Madeleines.
Es war absolut schleierhaft, wie sie wieder an Bord der alten Maschine gekommen waren. Die kreuzte im Orbit. Natürlich hatten sie die Verbindung per Funk und anderen Medien wie PILZ zu HUSAR. Das war nötig, um überhaupt einen Handlungsspielraum zu haben. The Extensions of Women, klaro? Aber dann, nachdem sie das Basislager verlassen hatten und im Irgendwo dieses exoplanetarischen Paradieses eine jener merkwürdigen Plattformen angesteuert hatten, ereignete sich ein Bruch in der als manifest geglaubten Kontinuität, und sie befanden sich wieder in ihrem Schiff. Die 耳の神様 hatte spannenderweise alles wieder an Bord, was bei der Landung mit der Fähre damals von Bina und Cat mitgenommen worden war. Nur konnte sich keine der beiden Menschinnen daran erinnern, wie alles wieder den Weg zurückgefunden hatte. Da sie aber ohnehin schon in einer absoluten Rätselhaftigkeit eingehaust waren, wunderte sie das nur bedingt. Über ihre Freude und Müdigkeit braucht nicht mehr geschrieben zu werden. Aber waren wir nun endlich wieder mit beiden Füßen auf dem Boden? Und was war mit der RDS? Was mit Trsteno? Auch dort waren Monate vergangen. Oder etwa nicht?

Blicken wir zurück: Kampmann hatte beim Olivenheini erfahren, dass Bröno zum Jazzfest auf Koločep weilte und ein Attentat plante. Die Frage, die sich den Freundinnen und Freunden der Fährnis stellte, lautete, auf wen oder was. Es hieß, die Zeitnazis würden die Macht übernehmen. Ferner sollte Egon Murks mit von der Partie sein, steckten versteckte Sensoriken im Kommunikationskosmos dem Team. Und Bröno Selfmachteger-Spretz natürlich mitten im Geschehen. Da die Radical Dude Society jedoch eine ihrer Natur und dem Wesen nach pazifistische Einrichtung war, stellte sich die Frage, wie man überhaupt eingreifen könnte, ohne dass eherne Prinzipien verletzt werden würden. Aber um das alles ein wenig abzukürzen: Kampmann fuhr zurück nach Trsteno und traf wieder auf die alten Freunde und Kämpen. Er vermisste Margaret tierisch und wie immer und wusste, dass das mit den beiden ohnehin beiden nichts anderes einbrachte, außer zänkisch verplemperte Lebenszeit. Mittlerweile hatte die RDS Nachricht von ein paar weiteren Untaten der Motorradfrau gehört. Und die seltsamen Regungen Kampmanns waren ihm selbst weder geheuer noch erwünscht. Was allerdings den eigentlichen Beweger in keiner Weise stiller stellte. Mann, er hielt es echt nicht mehr aus. Und nun sollte er auf dieser Insel versuchen, zusammen mit einem Club aus Pazifisten und Predigern, Gammlern und Tagedieben die drohende Weltherrschaft eines monströsen Weltraumnazis verhindern, von dem niemand wusste, welche Instrumente des Grauens er von seinem geplatzten Todesstern (wir berichteten früher, lieber Freunde, von den Ansätzen zum Sich-Ereignen) auf die Erde gebracht hatte, um seine sinistren Pläne Wirklichkeit werden zu lassen. Während er also immer noch die olfaktorische Fährte seiner Begierden aus dem Kopf treiben wollte, sammelte er dennoch allen Mut zusammen, um sämtliche Kollegen aus der Combo zusammen zu bringen, und er bildete sich ein, dass er es schaffen würde, dass er ihre unsinnigen Laborgespräche endlich maieutisch in Handlungsoptionen übersetzt und in fein ziselierte, weil notwendigerweise gewaltlose Aktionen prägende Pläne geschrieben bekam. Tief durchatmen. Was für ein Durcheinander! Aber in Trsteno war niemand mehr, und keiner ging ans Telefon. Stellen wir uns Nachstehendes vor: Kampmann ist frustriert und sucht mal wieder. Klar, der Typ sucht. Der sucht immer. Und findet mal was, meistens nichts. Und dann, maximal, wird er gefunden. Tätä: Fanfare im Kitschrock. Jetzt kommt er vom Strand angeschlurft. Das Hotel Europa liegt vor seiner Nase. Es ist ein modernistischer Bau aus Unmengen von Beton an die Wasserkante gegossen, geprägt vom rechten Winkel. Vom Strand herkommend, nähert Kampmann sich einer Balustrade. Zwei, drei Stufen steigt er an. Dann, aus der Mittelachse, nach rechts verschoben, ein geschickter architektonischer Schachzug, um alten Herrschaftsgeometrien gleich den Garaus zu machen, geht er einen geraden, gut 200 Meter langen Weg durch eine Allee aus Palmen, die genauso gut auf einem Boulevard in LA ihren Platz hätten. Endlos lange, in den Himmel ragende Stämme, und ein Püschel an Blattwerk obenauf. Cheerleading for Nature (oder fürs Hotel), sozusagen.

Diese opulente, ex-kommunistisch größenwahnsinnige und Moderne vorgaukelnde Inszenierung gestattete jedoch das Menschliche, Irdische in einer mathematischen Bauwelt zur Anschauung zu bringen. Das ist paradox, oder? Und das potenzierte den Charme des Hotels. Der Haupteingang lag im Dunklen. Das machte angesichts der Temperaturen durchaus Sinn. Übrigens handelte es sich keineswegs um die luxuriöse Fluchtburg reicher Apparatschiks aus dem abgestorbenen Jugoslawien. Nein, hierhin kamen angeblich die Familien aus allen realexistierenden sozialistischen Siechenrepubliken. Schade, dass man den Geschichten, die kursieren, keinen Glauben schenken darf. Ja, hier kamen Familien hin. Aber es ist nicht bekannt, dass die Welt hinter dem Eisernen Vorhang so sozial war, wie sie es dem Rest der Welt und sich selbst und seinen geschundenen Völkern Glauben machen wollte. Und ja, was sind wir doch desillusioniert. Aber irgendwie hatte es Kampmann geschafft herzukommen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er hier auf all‘ seine Freunde treffen würde. Wahrscheinlich sogar auf Büttner. Die emotionale Wucht der Folgen dieser Vorstellung musste gezügelt werden. Wir kennen ja die Unwahrscheinlichkeit. Wenn die erneut zuschlägt, kann es sein, dass wieder Raum und Zeit aus den Fugen geraten. Also: Temperantia, please.

Inter- und Paramezzo – Ferment
Die Ferne von Bina und Cat hat einen Namen: Cosimo Distratis. Den trafen sie in der Toskana bei Maurizio. Und sie hatten ihn auf der Rückbank ihres alten Renault R 4 beim alten Fritz in der Nähe von Dubrovnik. Er erfand und leitete bis zu seinem Tod das Osservatorio Avantgardista Isaac Newton. Der Refraktor ist bis heute Zeuge seines Wirkens. Wen die Beine tragen, der sollte seinen Weg über Uggiano Montefusco planen. Wer mit Geschichten reist, hat das nicht nötig. Es sei denn er, sie, es strandet in einer weit entfernten Galaxie.

Karsch wiederum nahm diese Wendungen zum Anlass, um sich zu fragen, ob denn das alles, was nun infrage gestellt worden war, nicht etwa besser umgeschrieben werden würde. Wenn alles zur Disposition stand, dann meinte das alles. Und wenn er, Karsch, begänne, dies alles um- bzw. neuzuschreiben, könnte es ja sein, dass Bina und Cat wieder nach Hause fänden, dass vor allem die universellen Grenzen zwischen Literatur, sprich Fiktionalität, und sogenannter Realität wieder eingesetzt werden könnten. Denn im Grunde hatte sich Karsch immer gefragt, ob nicht die sich hier schreibende Irrealität überhaupt Bedeutungen besaß. Besitzen ist auch so eine metaphorische Verleugnung der eigentlichen Sprachlosigkeit gegenüber Phänomen, die sich nur träumen lassen. Und während er das dachte, überkam ihn das Vergessen. «Wieder einer rausgekegelt», dachte Die Liebe Gott. Alles auf Anfang? Alles auf neu. Karsch lief wieder und weiter. Die alte Leier. Er hatte sich und andere verwechselt. Immer das Spiel der Namen. Er kam von einem langen Spaziergang durch und um Bilbao herum wieder in sein Hotel. Im Bilbi ging er links an der Rezeption vorbei und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. «Ich lasse das Ganze crashen», dachte er bei sich. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Area, The Perfect Dream, Third Mind Records, TLMP 28, 1988