In Oxidation. Wenn wir derartige Bücher öffnen, wissen wir nicht, was uns erwartet. Man kann noch so viele Titel aus der unendlichen Sekundärliteratur in den rudimentär vorhandenen Geist inkorporieren, doch kommt diese Sorte nicht annäherungsweise an das heran, was dort, im Urtext selbst, gefunden werden kann. Mittlerweile hatte sich die Landschaft unmerklich verändert. Bina und Cat wurden den Eindruck nicht los, dass hier gefegt worden war. Je weiter sie sich von ihrem Landeplatz entfernt hatten, je «ordentlicher» wurde die Umgebung. Weniger Bäume. Wenn doch noch ein paar dieser Kohlenstoffdioxidfänger sich in diese Ordnungsebene verirrten, dann standen sie auf eine Weise, als habe die Liebe Gott eine nützlichkeitsorientierte Pflanzung vorgenommen. Das war in etwa mit der Vorgehensweise vergleichbar, welche die durchdigitalisierten Bauern, im ausgehenden 21. Jahrhundert über ein unendlich dichtes Satellitennetz gesteuert, auf der Erde praktizierten. Die reine Geometrie auf die Fläche an der frischen Luft angewendet. Das wurde beiden unheimlich. Denn sie waren sich sicher, dass es damit keinen natürlichen Ursprung zu verbinden gäbe. Und da beide nicht an Magie, Hexerei oder was auch immer Übernatürliches glaubten, konnten sie sich diese Erscheinung nur damit erklären, dass hier eine «Hochkultur» so etwas wie Terraforming auf spießig dem Planeten angetan hatte. Nach dem anfänglichen Rumpeln ebnete sich gleichermaßen der Pfad, auf dem das Vehikel nun problemlos voran fuhr. Aber da war noch etwas anderes, was sie bislang weder gehört noch gesehen hatten. Irgendwer schrieb sich in die Gehirne der beiden, nachdem ein tiefer Gong ertönte. Und was sie dann auf ihrer Tour zu hören bekamen, ging so:
«Während wir die Pfade der Weisheit beschreiten wollen, sehen wir, dass die anderen auffordern, diese zu verlassen. Es ist ein Spiel der Äonen. Unsere Kultur hat offenbar niemals etwas anderes erleben können, als den ewigen Affront gegen das Bessere im Wesen der Bevölkerung. Sie nannten sich zivilisiert, doch sie verehrten Götzen und schufen einen Planeten aus waffenstarrendem Metall. Was nur lief in dem langen Prozess des Entstehens der denkenden Wesen falsch? Wir können es uns nicht erklären, warum manche es vorziehen, sich über die Maßen gegen die überlieferten Bräuche von Friedfertigkeit, Aufgeschlossenheit, dem Miteinander und dem Bejahenden an sich stellen. Das werden stets offene Fragen bleiben, denn es ist nicht einzusehen, was diese Wesen umtreibt. Sind sie nicht weise genug, könnten sei eigentlich nicht herrschen. Aber sie herrschen. Und sie herrschen härter als alle rechtmäßig bestimmten.
Können wir sagen, wie es zu dieser allgemeinen Verzerrung gekommen ist? Wir können es nicht. Die allgemeine Überlieferung gibt Folgendes an: Es begab sich zu einer Zeit, da mit einem Funken der Geist über die Wesen kam. Sie sahen plötzlich nicht nur, um sich zu orientieren und im Raum zu bewegen, sondern sie verstanden, dass sie zuvor anderswo als jetzt waren. Damit schrieben sie Geschichte: zuerst mündlich in das Kollektiv, dann, in einer weiteren Stufe auch auf ein Medium. Mit dem Fixieren ihrer so entstandenen Geistesgehalte bemerkten sie nach und nach, dass sie sich über die Jahre hin verbessert hatten. Immer ein Stückchen mehr. Immer ein Quäntchen weiter gehend. Das genossen sie. Und zwar liebten sie dies in ihrer Gemeinschaft so lange, wie sie sich allein wähnten. Aber schon bald fanden einige unter ihnen heraus, dass sie das nicht waren. Dabei ging es weniger um die Feststellung, dass außer ihrer Gruppe noch andere da draußen in den Weiten umherzogen. Vielmehr stellten sie sich die Frage aller Fragen: ‹Wo bin ich, wenn ich mich erkenne und im Erkennen erfinde?›
Dass man sich selbst sähe, wenn man nur genau genug in die Weite schweife, das war erkannt und etabliert. Aber meistens gelangten die Mitglieder der Gruppe nur in eine Art Vorstufe. Das war mehr oder weniger ein Taumel. Ich bin lediglich Chronist, der in den Wind schreibt. Meine Zeichen vergehen mit jedem Schwung, den ich nehme, um vor dem Himmel am Berg zu zeichnen, was mir die Überlieferung mit auf den Weg gegeben hat. Ich erwache in einen frühen Morgen hinein. Ich nehme mein Hauswesen mit auf den langen Weg, der mich bis in den Mittag hinein auf den hohen Hügel trägt, der den Gipfeln der Größten vorgelagert ist. Aus den Ebenen musste ich schon vor Jahrzehnten fliehen, da mein Verstand nicht mehr hinter der Welt herkam. Ich bin vielleicht weiter gekommen als die anderen, aber ich bin näher an der Wirklichkeit, als mir das lieb ist. Vielleicht konnte ich die Vorstufe überwinden. Ich bin mir nicht sicher.
Da draußen also sind die anderen. Sie haben beschlossen, mich zu meiden, seitdem ich ihnen mitgeteilt habe, dass sie die Welt in Unordnung bringen würden, wenn sie ihr selbstbezogenes Spiel fortführten. Sie mochten es nicht hören. Sie gruben in den Erden nach Metall und legten ihre Feuer an alles, was den Flammen Nahrung zu geben vermochte. Jeden Tag, wenn ich die Chronik in den Wind schreibe, frage ich mich, ob sich jemals etwas ändern wird. Sie können nicht aufhören, und es ist ihnen gleichgültig, ob dabei aller Lebensraum vernichtet wird. Sie haben den Zustand der Nähe durch einen der Unterwerfung getauscht. Sie unterwerfen und sind unterworfen. Wäre es doch wenigstens nicht so einfach zu verstehen! Zu ihnen zurück werde ich nie und nimmer kehren können. Hier geht alles seinen Gang. Wenn ich mittags wieder heruntersteige, habe ich in meinem Sack alles, was wir zum Überleben benötigen. Ich bin nicht allein.
Mein Hauswesen begnügt sich mit Kleinerem, in welchem Flüssigwelt fließt. Das ist nichts mehr für mich. Ich sammle Sporenträger und Ornamentspender. Unten haben sie alles kultiviert, und man isst von Metall. Hier ist das Grau wieder verdrängt. Ich weiß es nicht, ob ich das gewesen bin. Aber ich sehe, dass es richtig ist. Denn das Oben wird sichtbar. Irgendwann habe ich festgestellt, dass das nicht die einzige Zone der Andersheit hier ist. Manchmal nämlich packe ich mein Zeug, nehme das Hauswesen mit und gehe, zumindest scheint es mir so, ohne Ende. Dann komme ich an. Denn man kommt immer an. Selbst wenn man unterwegs ist, kommt man an, denn alles ist Ankunft. Das aber verstehen die meisten Metalls nicht. Also wenn ich dann doch raste, dann sehe ich die Reste von den Alten.
Wusstet ihr, dass schon andere hier waren? Wir haben die Spuren gesehen. Keiner, auch die Metalls nicht, konnten sie verstehen. Und niemand von uns hörte ihre Geschichten. Das betrifft im Übrigen auch mich, was ich sehr seltsam finde. Immer war ich der Auffassung, dass meine Möglichkeiten das Mehr in den Lüften und auf den Böden zu sehen, zu schmecken, zu riechen, zu hören, zu fühlen ausgeprägter sei als bei den anderen. Doch ich sah mich getäuscht. Auch ich konnte nur das Allgemeine auf den Plateaus sehen und erleben, was die anderen sahen und erlebten. Ihre Zeichen, die auf wundersame Weise niemals vergingen, blieben uns verschlossen. Ich habe in meiner Nachbarschaft auch solch ein Plateau. Wenn ich nicht mit dem Hauswesen umherziehe, wenn mein Tag nach den regelhaften Stufenfolgen des Vergehens verläuft, dann besuche ich in rhythmischen Abständen das Plateau und betrachte die dort sichtbaren Linienspiele und ergötze mich an dem Zustand des Nichtverstehens. Ihr könnt es nur sehen, wenn ihr mich beobachtet. Ob ihr verstehen würdet?
Heute zeichne ich die Bewegung der Wolken. So nennt ihr das wohl. Der Dampf steigt auf. Offenbar ist das Unten wärmer als das Oben. Ich berechnete den Zusammenhang und wusste, dass kein Unheil drohen würde. Da war ich also und schrieb dies hier in den Wind. Das ist meine Aufgabe. In den Wind schreiben. Es ist eine würdige Tätigkeit. Den Metalls wird es sinnlos erscheinen. Das In-den-Wind-schreiben jedoch erhält alles. Und es enthält alles. Es trägt hierhin und dorthin und könnte überall sein, wenn nicht die Widerstände so groß wären. Gegen das, was sich nur wohltuend mit uns verbindet. Wir könnten dies, aber dafür müssten wir über uns hinaus. Wird es jemals jemand geben, der das in die Breite trägt? Und wenn es so wäre, wem wäre das dann ausgesetzt, wenn es sich manifestierte? Vielleicht ist es genau deswegen das Beste, eben nichts mehr festhalten zu wollen.»
David Sylvian, Secrets of the Beehive, CDC 2471 0777 8602828, Virgin 1987