Währenddessen blökten die Schafe

Jetzt kam er sich lächerlich vor. Alles, was er an Beobachtungsapparaten aktivieren konnte und mit seinem Freigabestatus benutzen durfte, hatte er in Anschlag gebracht. Er organiserte Schichtenschnitte, ließ selbstlernende Analysewerkzeuge über die Daten laufen. Immer dasselbe: Die Sensorik erfasste ein bestimmtes Volumen, das sich durch eine dreidmimensionale Hülle auszeichnete. Dann «sah» Karschs Software diese Partikelbewegungen. Und was zeigte ihm das reale Bild von dem Stück Land auf das er schaute? Eine Schafherde? Karsch. Ungläubig. Ja, sprachlos war er. Und unser Vorzeigegeheimdienstler kam sich vor, als würde ihn die Welt verarschen. «Geht aber nicht, keine anderen Ergebnisse denkbar. Es ist wie es ist.» Dachte er. Tippte und schaute weiter. Und er verfluchte sich, diesen Job gewählt zu haben. Also noch einmal: In einem Kaff bei Regensburg gibt es einen Damm, der das Dorf vor Hochwasser schützen soll. Auf diesem Damm stehen Schafe. Die Schafe geben Laute von sich. Das nennt man Blöken. Dieses Blöken und die Aufstellungsgeometrie erzeugen ein Muster in den Aerosolen. Dieses Muster ist eine Art Hülle und erscheint als eine nichtlineare Darstellung von Klang auf den XYZ-Koordinaten. In Übersetzung, beziehungsweise Projektion auf einen linearen Zeitstrahl, entstehen auf der Fläche Schichten, die, entfaltet und aneinandergereiht, was ergeben? Genau: eine Botschaft. Das ist doch alles irre. Seine Software hatte herausgefunden, dass die Dekompression der dreidimensionalen Schichtung ein komplexes, möbiusbandartiges Gebilde darstellte, dessen Ausdehnung sich auf die Fläche beschränkte, die die Schafe besetzten. Topologie. Da hatte er’s. Das war während des Studiums ein Albtraum, in dem er immer noch gefangen war. Und ganz gleich, von welcher Seite man das sich entfaltende Objekt betrachtete, blieb es gleich. Die Schräge des Damms schien dabei keine Auswirkung zu zeitigen. So dass es auch von allen Seiten zu entfalten war, ohne dass Verluste oder Redundanzen auftraten. Der Topologe, der er selbst nicht war, hätte seine Freude daran gehabt. Er würde Caterina Vicento befragen müssen. Die war Trägerin der Fieldsmedaille und kannte sich im angeführten Bereich der Mathematik bestens aus. Das alles erklärte jedoch noch keine Absenderschaft oder Autorschaft. Nachdem er sich von seiner Software die Schichten hatte zerlegen und aneinanderreihen lassen, errechnete er Vektordaten und kopierte den derart verkleinerten Gehalt in ein Fenster von Audacity. Schon hatte er ein Tonstück, man sollte es kaum glauben. Der Moment war gekommen, auf Play zu drücken. Holger Karsch setzte sich seine Kopfhörer auf.

«Hier spricht die Liebe Gott», tönte es in seinem Kopf.

[…] 1 min.
[…] 1 min.
[…] 1,33 min.
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Das hätte Karsch sich denken können. Natürlich war es niemand anderes als die verrückte Sippe rund um Büttner, der bekanntermaßen Trsteno mit den Leuten der RDS unsicher machte. Viel kam dann nicht mehr dabei herum, aber die Geographie blieb das größte Rätsel. Warum zur Hölle kam die Sendung aus Deutschland, aus Bayern, aus der Nähe von Regensburg? Sicher, dort hatte Kampmann seine Basis, aber der war ja schließlich auch in Kroatien. Und wie etwa kam das Signal dorthin, warum? Sicher nicht wegen der Fake Illuminati, die dort eine ganze Weile schon versuchten, der RDS das Wasser zu reichen. Was sie nicht konnten, weil sie weder die historische Tiefe noch das Personal hatten, um progressive Friedensarbeit jenseits eingefahrener Klischees zu plattitüdieren. Kampmann hatte den FI schon ziemlich häufig das Angebot gemacht, auf den eigenen Laden zu verzichten, um in der RDS aufzugehen. Aber die wussten alles besser, also gab es die RDS auf und ließ die FI ihren Kram durchziehen. Nur einmal gab es eine Klage, da ein paar Hartgesottene der FI ein gigantisches Transparent mit RDS-Blüte auf dem Campus von Siemens an das Gebäude der Vitesco hefteten, so dass man es bestens vom Odessa-Ring aus sah, wenn man gen Stadt fuhr. Das Firmenplakat hatte man kurzerhand entsorgt. Das waren dann nicht die präferierten Methoden der RDS. Das war natürlich noch harmlos, ließ aber auf die grundsätzlich andere Methodik schließen. Also FI? Deswegen kam niemand und nichts hinsichtlich der Physik dieses Planeten auf den Gedanken, Schafe auf dem Damm bei Barbing während des äsens so zu positionieren, dass diese bescheuerte Nachricht dabei herauskam.

Karsch war es egal. Er hielt still und überlegte sich, was er mit den gewonnenen Informationen anfangen könnte. Theoretisch könnte er jetzt direkt einmal bei den Kolleginnen und Kollegen am Mittelmeer anrufen. Praktisch ging das aus Gründen der Geheimhaltung nicht. Also musste auch Karsch warten. Es schien allenthalben Wartezeit zu sein. Jeder wartete gerade. Die einen warteten am Ende des Universums auf irgendeine Möglichkeit, zur Erde zurück zu kehren, auch auf die Gefahr hin, dass die Zeit aus den Fugen geraten worden sei. Das ist zwar falsch in Tempus etc., drückt aber aus, wie verrückt die Lage von Bina und Cat war und ist und sein wird und gewesen war und wäre, wenn. Kampmann fuhr Taxi und wartete in sich auf etwas, das die Geschichte vorantreiben würde. Büttner wartete auf Amerika. Und alle anderen warteten mit Büttner darauf, die Konferenz in Trsteno endlich zu einem Ergebnis führen würde. Und überall auf dem Planeten Erde wartete man auf bessere Zeiten, verfluchte sich und alle anderen, passivierte und prokrastinierte in den wohlhabenden Gefilden, und wo die Armut grassierte, wartete man auf Besserung. Und manche taten etwas, etwa die RDS. Selbst wenn sie wartete, denn sie war die RDS. Währenddessen blökten die Schafe. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Gustav Mahler, Kindertotenlieder, Berliner Philharmoniker, Rudolf Kempe; Lieder eines fahrenden Gesellen, Philharmonia Orchestra London, Wilhelm Furtwängler, Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton; EMI C063-00898; o. J. (ca. 1977)