Dr. Holger Karsch flanierte entlang der Uferpromenade des stets ruhig-gelangweilten Nervíon bis er zum Baobab kam. Er nahm draußen an einem der kleinen, einladenden Tische Platz und freute sich wie jeden Tag über diese Stadt und die Lässigkeit, mit der man hier seinen Geist entfalten konnte. Es war frisch geworden, leicht regnerisch. Der Asphalt glänzte vom nachmittäglichen Regen. Karsch zog den Reißverschluss seiner leichten Protest-Steppjacke bis unters Kinn, bestellte ein Bier, öffnete den Rucksack, das Inktablet mit seinen neuesten Berechnungen vergessend, entfaltete sein Etui mit den Montecristo und entnahm der Auswahl eine Petit Edmundo, rollte sie unterhalb der Nasenflügel hin und her und her und hin und hin und her und her und hin und hin und her und her und hin und hin und her und her und hin und hin und her und her und hin und atmete bei diesem, für jeden, der zuschaute, überaus hochgradig enervierenden Vorgang, tief ein. Ein untrügliches Zeichen seiner innerer Beschäftigung, Anspannung, Arbeit. Er fühlte sich trotzdem wohl. Wir wissen, dass Karschs Gedanken schwer von den Umständen des Lebens und der Verantwortung für die Zukünfte der RDS und damit der Menschheit waren. «Kopp in’ Nacken, ab in’ Hals.» Nachdem er das Bier in einem Zug geleert hatte, deponierte er die Zigarre sorgsam wieder in dem schlanken, schwarzen Etui mit dem kleinen silbernen Verschluss, betrat die Bar und suchte den Abort auf. Er grüßte im Vorbeigehen den schwarz gelockten, fantastisch aussehenden ewigen Studenten und beneidete ihn beinahe für sein ganzes Dasein, obschon er wusste, dass er zusammen mit seiner Frau zwei Kinder durchzubringen hatte, und das Kellnern und ihre Sozialarbeit brachten kaum genug ein, um den Mietzins regelmäßig ableisten zu können. Das verlangte allen eine härtere Gangart in allem ab, dieser Mann hier scherte sich nicht darum, denn er war von tiefer innerer Ruhe beseelt. Zumindest meinte man das, wenn man ihn beobachtete, so wie Karsch es regelmäßig tat. Er bestellte, sich auch über die nach Lavendel duftende Seife freuend, mit noch vom Waschen feuchten Händen im Vorbeigehen unmittelbar vor seiner zweiten Zigarrenmeditation ein weiteres Bier, ging damit vor die Tür, setzte sich dieses Mal nicht wieder an den wackligen Tisch mit den verwitterten, zirka zehn bis 14 Zentimeter breiten Holzlatten, schaute auf den Fluss, beobachtete den Verkehr vor seiner Nase, die Kinder, die in der Seitenstraße spielten und fühlte eine innere Ruhe, nachdem er den knappen halben Liter in einem Zug in die Vergangenheit seines vegetativen Illusionsproduktionssystems rinnen und verrinnen ließ. Jetzt hatte er in diesem kleinen Moment den angenehmen Menschen mit seinen Sorgen, besser: nicht den Menschen, sondern dessen Sorgen vergessen.
Einer der Gäste stand plötzlich neben ihm und bot ihm einen Streichholz an. Den Karsch mit sichtlicher Freude über die Freundlichkeit annahm, abrieb, und mit einer derart entstandenen Flamme entzündete der die knappen 30 Euro, die er zuvor so genussvoll riechend, nüsternd gar in sich aufgenommen hatte. Im Baobab war er beinahe täglich, wenn er in Bilbao weilte. Man kannte den Deutschen mit seinen merkwürdigen Marotten bereits. Und man mochte seine Schrullen, aber auch seine dazu paradoxe Aufgeschlossenheit die mit Versunkenheit im Wechselstreit lag, und in der er versonnen zu jeder Wetterlage immer ein wenig der Lage entrückt zu sein schien. Oder er war vollkommen klar und da und sprach über die Sorgen, die man als junger Familienvater, wie es der Mann hinter dem Tresen einer war, so zu haben pflegt. Und dann zog auch Karsch die Stirn kraus. Sinnierte wieder, schien in sich gekehrt. Und natürlich fragte sich jeder, warum das so ausschaute. Karsch wusste es. Ganz klar, die Last der Sorgen der Vielen. Das waren eben nur andere, als die der meisten um ihn herum. Was denn sonst. Das muss man ja niemandem auf die Nase binden. Die ist sowieso besser zum Schnuppern an, Inhalieren und Ausatmen der Verbrennungserzeugnisse großartiger Zigarren geeignet. Wundert es jemanden, dass eins der Lieblingsbücher von Karsch der «Brenner» war? Nicht wirklich.
Karsch hatte in den vergangenen Monaten mit einem Team der ESA darauf hin gearbeitet, einen Satelliten mit einer besonderen Erdbeobachtungsmission auf den Weg zu bringen. Das war nun kein Spionagekram wie sonst, sondern vielmehr etwas wissenschaftlich Sinnvolles. Der Hintergrund war klar. Ein Teil der generellen Rettungsvorhaben der Menschheit betraf natürlich auch die klimatische Lage, die bestürzend schlimm war. Jeder wusste, dass die Klimaziele von Paris nicht gehalten werden konnten. Ein Zehntelgrad folgte Jahr um Jahr aufs nächste; so stieg die Durchschnittstemperatur offenbar unaufhaltsam und letal. Selbstredend auch deswegen, weil Verhaltensänderung nicht jedermanns Sache ist. Die Kohlendioxid- und Methanbelastung nahm kaum merklich ab. Es waren ungünstige Zeitläufte fürs Überleben aller. Dann kam ja noch der übliche Weltkrisenkram dazu: Bröno hatte in Putin einen geeigneten Wegbegleiter gefunden. Herde unter Feuer. Krieg in Europa, im Nahen Osten, und immer wieder in Afrika, Südostasien. Manche redeten schon von einem Weltkrieg, gerade weil sich derzeit die destruktiven Investitionen Russlands so deutlich an allen Stellen des Globus offenbarten. Aber nicht alles ging zu jeder Zeit. Karsch hatte jetzt sinnierend ein Stadium erreicht, in dem sein Tabakinstrument in Würde sterben durfte. Über die Jahre hatte er sein Rauchen perfektioniert. Mit Grusel dachte er gelegentlich an die Zeiten seiner Initiation. Da hatte er versucht, den Genuss zu erzwingen. Zu heftiges Ziehen. Und dann kamen diese Übersäuerung und der extreme Speichelfluss. Ganz abgesehen davon, dass das Nikotin ihm die Schuhe auszog und all’ der Dampf ihm den Magen umdrehte. Nein, jetzt war nicht die Zeit für Weltkonflikte.
Jetzt war es an der Zeit zu speisen. In jedem Fall musste Bröno warten. Im Übrigen quälte sich derzeit beinahe die gesamte Führungsriege der RDS im kroatischen Trsteno mit dem Weltraumnazi. Also musste er nicht auch noch mitmischen. Nicht jetzt. Es reichte, sich gelegentlich die Einfälle erzählen zu lassen. Und da war er wieder im Thema. Erzählungen, Übertragungen. Darum drehte sich doch letztlich alles. Und seine Entdeckungen einer quasi dimensionsungebundenen Medialität raubte ihm Schlaf und gab ihm Zuversicht, dass doch noch alles gut werden würde. Nun, er wollte also jetzt erforschen, was es mit der Verteilung der Aerosole auf sich hatte. Als der Satellit mit einer Ariane 8 im All war, produzierte und sendete er artig Daten, wenn er die Polstationen überflog. Das Material durchlief zunächst klassische Algorithmik, und man sah nach einigem Hin- und Herschubsen von Werten aus den Zahlen, welche Einwirkungen die Aerosole zur frühen Nachmittagszeit aufs Wetter, besser: auf die generelle Temperaturlage und ihre Verteilung und die daraus resultierenden Verschiebungen von Lagen zu den wechselnden, nennen wir es «Globalgezeiten» nahmen. Die Auflösung, die das Höchstperfektionsinstrument mit seinen Radaren und Lidaren lieferte, war unglaublich, und nur deswegen konnte Karsch auf ein merkwürdiges Phänomen stoßen, oder gestoßen werden. Es gab Zonen, die sich nicht nur kennzeichneten durch eine bestimmte Verteilung von Konstellationen im allgemein geordneten Chaos der fuzzy Atmosphäre, so wie sie eigentlich immer das abbildeten, was man auch vom Boden sah, aber darum ging es ja beim ursprünglichen Projekt nicht. Sondern man sah auch anderes, wenn man anders schaute. Die Meteorologen jedenfalls sahen nicht das, was Karsch sah, als er dann noch schnell eine Software schrieb, die Relationen zwischen diesen, nennen wir sie einfach Datenflecken, aufzufinden in der Lage war. Und siehe da: Es ließen sich derartige Phänomene überall im habitablen Bereich des Planeten finden. Je weniger ein Areal besiedelt war, umso weniger erschienen sie. Je dichter eine Landschaft verbaut war, umso weniger häufig tauchten diese Erscheinungen auf. Karsch sinnierte im Baobab, während er seinen Couscous aß. Der war wie stets fantastisch. Himmel, die Köchinnen und Köche hier konnten es wirklich. Und wie unscheinbar der Laden doch war. Karsch saß aufrecht auf dem Holzstuhl, schlürfte sein übernächstes Bier und ließ den Blick über rohsteinerne Wand schweifen, und er sah auch hier schon wieder Muster. Aber das waren andere, da Menschen diese Steine behauen hatten. «Ich muss morgen früh sofort zu den Kartografen», dachte er bei sich. Und sprach es laut aus. Jetzt also wurde es ernst. Es wurde immer ernst, wenn er laut mit sich sprach. Zum Glück verstand ihn nicht jeder. Das war ohnehin eine humorvolle Angelegenheit: Zwar konnte Karsch ein bisschen Spanisch radebrechen, aber mit Baskisch war er überfordert, und wenn er selbst dann in sein westfälisches Platt fiel, war zwischen Sendern und Empfängern der Faden sehr farbig und nur noch über Unaussprechliche geknüpft. So ließ sich immer noch denken, dass er das Essen genoss, was ja auch der Tatsache entsprach, und bei dem Ausrufer brauchte niemand ein schlechtes Gewissen zu haben. Was er sich am wenigsten jedoch erklären konnte, war diese unmögliche Konzentration der Flecken über Irland, Rumänien, Spanien, Griechenland und ein paar anderen Ländern. Aber um Ableitungen in Thesen zu formulieren, mussten erst einmal die Phänomene selbst beschrieben werden. «Heute nicht mehr.» Er bemerkte, wie er langsam betrunken wurde. Trotz des unglaublich schmackhaften Mahls. «Doch heute.»
«Es ist im Unaussprechlichen zu suchen», dachte Karsch bei sich, den Faden von vorhin weiterspinnend. Der Arm ging hoch, zeigte aufs leere Glas, Karsch rollte sich eine Van Nelle Halbschwarz, nahm das Bier, schaute wieder auf den Nervíon. Mittlerweile war es dunkel geworden. Eine Atmosphäre wie in einem Magritte-Gemälde. Paradoxe Laternen, Teil 3. Er ging schnell zurück in die Bar, denn es war ihm ein Licht aufgegangen. «Heureka!» Und schon zückte er sein Laptop, verband sich mit dem WLAN, öffnete einen Tunnel ins Rechenzentrum, steuerte ins ~/src schoss den Vim hoch und begann furiengleich zu tippen. Wer ihm in den Bildschirm schauen wollte, um diese Hektik zu begreifen sah nichts. Und wenn er gesehen hätte, was durch das neuartige Glas, das nur fürs Auge desjenigen sichtbar machte, was das Zusammenspiel der Komponenten auf Menschen Geheiß hervorzubringen vermochten, zu sehen wäre, hätte nichts verstanden. So geht es uns auch. Wir lauschen nur dem hackenden Klacken, das die kleinen schwarzen abgerundeten Quadrate produzierten. Stellte man sich den dreidimensionalen Raum vor wie ein abstrahiertes Koordinatensystem aus Schichten, in denen Werte Veränderungen im Geflecht dieses räumlichen Rasters, man denke umgehend an das Plattencover von Joy Divisions Album «Unknown Pleasures» (Factory, FACT 10, 1979) multiperspektivisch, dann hatte man es. Es waren Schwingungen, Wellenbewegungen, spitze Stöße gegen ein weiches, nachgebendes Gefüge; dieses Gestammele nur, um es in Sprache fassen zu können. Es war, das fiel Karsch wie Schuppen von den Augen, Akustik pur, und damit hatte es sich. In einem der Flecken über Deutschland isolierte er schnell ein Zeitfenster von fünf Sekunden aus den Daten und schrieb eine Visualisierung auf XYZ mit Blick auf die Zeit, packte es eine Abfolge von handelsüblichen 360 fps. Und er sah, dass das, was der Satellit erfasst hatte, nichts anderes als die analoge Darstellung von Klang war! Schall im freien Raum. Die Aerosole gerieten also durch etwas in Bewegung! Es musste Verursacher geben. Denn diese Bewegungen konnten nicht aufgrund der Wetterlage oder anhand der Topografie entstanden sein. Was war da? Er öffnete den Zugang zu Deusat, einem geostationären Überwachungssatelliten der RDS, konzentrierte den auf 20 Zentimeter präzisen Blick der Spionagekamera auf den Schnittpunkt von Längen- und Breitengrad, auf dem dieser Flecken lag. Immer wieder geriet er außer Atem, was heute optisch machbar war. Er zoomte auf einen Ausschnitt von 1 x 1 Kilometer und sah ein Kaff in der Nähe von Regensburg, das an der Donau liegt. Dann konzentrierte er den Zoom weiter: Hier bitte an die Szene in Bladerunner denken, als Deckert das Schlupfloch der Replikanten analysiert. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Lilly Palmer, New Generation, EP, Armada (4), ARMAS2797, Spannung Records, SP21, Kontor Records, SP21, 2024; Nia Archives, Silence is Loud, Hijinxx 6500353, Island Records 6500353, 2024; Wiener Symphoniker, Ltg. Philippe Jordan, Brahms Symphonies, Wiener Symphoniker WS021, 2022