«The Lark Ascending» ist ein ausgesprochenes Frühlingsstück. Vielleicht kann man sich im Vollzug empathischen Hörens noch den Sommer vorstellen. Jetzt aber ist der Beginn des Frühlings. Die Lerchen steigen bereits. Es ist Anfang April. Die Felder sind noch weitgehend unbestellt. Landwirte sieht man derzeit nicht in den frühen Morgenstunden, nachdem die Sonne bereits aufgegangen ist. Aber sie sind wieder da, die Lerchen, und sie singen. Im Stück ist dies vielleicht die exponierte Violine, die bereits im dritten Takt mit einer aufsteigenden Linie das verschlungene Kernmotiv in Form einer Kadenz exponiert. Es sind zweiunddreißigstel Sekundenintervalle, zunächst vier an der Zahl, die von einer Viertel angehalten, dann zwei Achteln und dann zwei punktierten Achteln endwärts zu einer Art Motiv zusammengefasst werden. Um es weich erklingen zu lassen, bestimmt Vaughan-Willams den Bogen «sur la touche», also nah am Griffbrett zu führen. Das ist dann zwar nicht so samtig, wie mit dem Dämpfer, der Ton wird dennoch verfremdet und sirrend weich. Am Ende der Kadenz lässt er den Solisten «senza misura», ohne Metrum, ohne definierten Takt spielen. Aufhebung. Wer weiß, wo die Lerche nun ist. Vielleicht ist sie einfach nur ein paar Hundert Meter weitergeflogen. Sie hat aufgehört zu singen, und das Solo fließt über in die Streichbegleitung.
Das der Komposition zugrunde liegende Gedicht von George Meredith, so erklärte es mir Cat Tschippitea, beschreibe die Schönheit und Freiheit des Gesangs der Lerche. Ich frage mich nicht, warum der Gesang nun frei ist. Vielmehr ist die Lerche frei, ihren Gesang zu singen. Cat sagt weiter, die Lerche sei als ein Symbol der Freiheit und der Ekstase dargestellt. Ekstatisch war da nur der Dichter, meinte Cat. Ich stimme ihr zu. Das Gedicht ist eher unerträglich und hat sowohl aus ornithologischem als auch literarischem Blickwinkel wenig mit diesem Vogel zu tun. Die zeitliche Distanz und vielleicht die eine oder andere Drogierung des Autors haben dazu geführt, dass das Wort in seiner tendenziösen Hyperleidenschaftlichkeit an allen, so unterstelle ich einmal, selbstgesetzten Zielen vorbeischießt. Wir wollen hier, da spreche ich auch für Cat, mit der ich sehr lange über diese Zusammenhänge zwischen Dichtung, Musik und Wirklichkeit sprach, keinem flachen Realismus zureden. Im Gegenteil, wir sind uns einig, dass die Überdrehtheit der Sprache viel eher Ausdruck einer realen Lage ist. Die aber nicht mit dem Zauber der Komposition geschweige denn der Beobachtung des Tiers kongruiert. Das ist insofern schade, als natürlich die Erkundung, aber auch das Erzeugen von Verhältnissen zwischen Kunstformen oft große intellektuelle Herausforderungen sind. In diesem Fall sollte man jedoch die Dichtung ad acta legen und lieber zuhören: dem unscheinbaren Vogel im Feld wie der symphonischen Programmdichtung.
Klarinetten, Hörner und Streicher beginnen mit einer Aufwärtsbewegung in Sekundenschritten auf mittlerer Lage, gespielt con sordino, also mit Dämpfer. Auf dem eingestrichenen F und justiert mit einer Fermate, hebt das Tonstück an. In diese getragene Eröffnung, die kaum mehr als eine «Silbe» ist, vielleicht nicht einmal als Motiv durchgeht, startet das Solo der Violine in Form der bereits angesprochenen Kadenz, was ungewöhnlich ist, da diese im klassischen Solokonzert stets erst am Ende eines Satzes die Improvisationskünste des Solisten zu Gehör brachte. Als freie Interpretation über das zuvor Gehörte. Hier also eine Umkehrung. In jedem Fall klingt es schön ländlich. Und englisch. Es ist Weite, es ist das Anhebende, das die Landschaft öffnet. Nichts begrenzt den Horizont. Eine Acker- und Feldlandschaft breiter sich träg-gemütlich deckengleich aus. Der Komponist Ralph Vaughan-Williams begann 1914 mit der Niederschrift. Dann aber kam der Erste Weltkrieg, so dass er die Komposition erst im Jahre 1920 vollendet hat. In manchen Quellen heißt es, er habe nach dem Krieg eine revidierte Fassung geschrieben. Wie der Krieg auf Vaughan-Williams gewirkt hat, muss Spekulation bleiben. In Frankreich stationiert, verlor er durch den Lärm der Geschütze sein Gehör. Als Mensch des Klangs, des geformten, sublimierten Klangs, ist es erstaunlich, dass sein noch folgendes Lebenswerk nicht wesentlich härter ausgefallen ist. Es hat nicht den Anschein, als habe sich der Komponist die Lebenserfahrungen des allanwesenden Todes von der Seele schreiben müssen. Spannend an der «Lark» ist die zeitliche Klammer. Noch in der Dämmerung zum ersten weltweiten Untergang beginnt er eine Idylle. Das macht neugierig. Ich würde mich gern mit ihm über die Politik vor WK1 unterhalten. Wie war das in England? Er hat sicher viel mitbekommen, denn es ist ja bekannt, dass er übers Land zog, um Volksmelodien, die nicht in Noten fixiert waren, aufzuschreiben.
Diese Klangwelt trübt kein Wässerchen. Selbst ein paar halbwegs spontan auftauchende Forte-Partien muten an, als müssten sie der Vermeidung von Langeweile wegen auf die Bühne kommen. Dramatisches passiert hier an keiner Stelle. Im Großen ist das Stück sehr geordnet. Es verlässt übrigens nie die Assoziation zum Federvieh. Zwischendrin darf auch getanzt werden. Die Kadenz taucht strukturbildend kurz vor Buchstabe G (die Takte in der mir vorliegenden Partitur sind nicht nummeriert) verkürzt auf und bildet gedehnt und variiert den Abschluss des gesamten Werks. In der Makrostruktur dominiert die an Pentatonik erinnernden Intervallstrukturen, maßgeblich vorgebracht durch den Solisten, ich mag nicht von Motiven oder gar Melodien reden, mit denen vor allem die Solovioline die Lerche, besser den Gesang der Lerche herbeizaubert. Das wirkt und webt bis zum letzten Takt so, in dem die Solovioline das Stück mit einem weiteren sehr langen Solo zu einem Ende bringt, das auf fermatierten, durch die Angabe «lunga» unter beiden Noten noch im Wert nach Belieben zu dehnenden, lang, je nach Interpreten, ausgehalten Vierteln des zweigestrichenen D und der dann nicht auflösenden Terz nach H hin sanft und leise schließt. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Ralph Vaughan-Williams, The Lark Ascending, Five Variants of «Dives of Lazarus», The Wasps – Aristophanic Suite; Violine: David Nolan, London Philharmonic Orchestra, Leitung: Vernan Handley; Emi Master Series, EMX 41 2082 1 DIGITAL, 1985