EXPLORATION

Viele Begriffe, die gedankliche oder semantische Einheit als Konzept, das alle Merkmale eines Gegenstandes oder Sachverhaltes vereint, sind in der Luft. Und viele Fotografien surren durch die Netzwerke. Immerzu und immerfort speise ich neues Material in die Netzwerke ein. Zuvor muss ich das Material gewinnen. Es der Umwelt entreißen. Es schöpfen. Gestalt annehmen lassen. Die Exploration scheint mir dafür dienlich.

Versuche, etwas herauszufinden. Bemühungen um präzisierende Erklärungen.

Vorbereitung

Was ich tue, was ich hier tue. Ist fotografieren, notieren, verfassen, speichern. Ist Sortieren, katalogisieren, formatieren, transformieren, kategorisieren, gewichten, abwägen. Fotografien, Wörter, Sätze oder Zahlen in Form von Zeichen festhalten, einen Text erstellen, mit Dativ: etwas schreiben und an jemanden schicken. Daten in einen Speicher ablegen, z.B. auf eine Festplatte oder in den Arbeitsspeicher. Oder etwas auf einer Tastatur oder an einem Bildschirm erfassen, langfristig, sehr bedeutsam oder wichtig.

Ich erkunde. Ich flaniere. Ich wandere. Ich schweife umher.

Die Leica. Genauer, der Blick durch den Sucher meiner Leica, rahmt meine Wahrnehmung. Im Sucher, dem Display, ein anderes Wort für Bildschirm, Monitor, ein aus (Quarz-)Kristallen hergestellte Anzeige an Geräten, blende ich ein grobes Raster ein. Ein Gestaltungsraster. Ein Gitternetz aus vertikalen und horizontalen Linien.

Nicht jede Aufnahme fertige ich mit der Leica an. Das Taschentelefon ist mein steter Begleiter. Auch hier: Serielle Fotografie, nacheinander aufgenommene Fotografien. Aufeinanderfolgend, in Serie, in zeitlicher Abfolge, sequentiell, seriell. Allerweltsaufnahmen, denke ich. Sie sind allgemein, alltäglich, banal. Alltagsfotografie. Sie wird oft als billig oder durchschnittlich betrachtet. Dutzendware, einfach, gemein, gewöhnlich. Sie gibt’s im Überfluss.

Serielle Fotografien auf Tafeln (Kontaktbögen) zusammenstellen. Einem Pedokomparator (=gerasterte Schachtel zum Aufbewahren vieler Bodenproben) gleich. 

Feldforschung ist die Datenerhebung “vor Ort”, im Lebensumfeld, dem Lebenskreis, der Lebenswelt, den lebensweltlichen Zusammenhängen, der Mitwelt, dem Umfeld, der Umgebung, der Einöde, dem Ödland, der Nachbarschaft, den Anwohnern, der Leute in der Umgebung, dem städtischen Milieu, dem urbanen Umfeld der Untersuchten, im Gegensatz zur Auswertung von schriftlichen Quellen oder Versuchen im Labor. Im Feld sein. Unter Leuten. In der Natur. In der Kulturlandschaft.

Ich bewege mich im Milieu, der Gesamtheit der natürlichen und sozialen Lebensverhältnisse, in (bestimmten) Kreisen, in Lebensbereichen. Mein Aktionsradius, mein Einflussbereich, mein Einwirkungsbereich begrenzt sich auf mein Blickfeld, mein Gesichtsfeld, meinem Gesichtskreis.

Diese Grundbedingungen sind gegeben. Und doch. Ich kann etwas bildlich vor mir sehen, imaginieren. Etwas (in allen Details) vor meinem geistigen Auge (sehen), es mir (plastisch) vorstellen. Ich sehe es schon deutlich vor mir. Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Noch bevor ich einen Schritt vor die Tür, ein trennendes oder verbindendes Element zwischen Räumen und/oder Bereichen, gesetzt habe. Was aber erkunde ich dann? Sind das nicht die geistigen Bilder? Die Interpretationen? Die Vor-Urteile? Lasse ich den Dingen Raum und Zeit, zu mir zu sprechen?

Wie fasse ich die Welt in Worte? Werde ich das, was ich unterwegs entdecke bzw. das, was ich vermeintlich entdecke, doch vielleicht konstruiere, zusammenfassen? Mir ist bewusst, dass mich die Dinge durch ihre Eigenschaften, Gesten, Haltungen und Handlungen beeinflussen (werden).

Dereflexion.

Packliste:

  • Leica Q2 Mono
  • Taschentelefon
  • Digitalrecorder
  • Taschenmesser
  • Rucksack
  • Haversack
  • Tripod
  • Skizzenblock und Stift
  • Proviant (Jausenbrot, Wasser, Nuss-Trockenfrüchte-Mix)
  • Offene Fragen
  • und jede Menge Vor-Urteile, Urteile über jemenschen oder etwas, die nicht auf Erfahrungen oder Wissen über das Beurteilte beruhen. Mithin Vorausurteile, das heißt Urteile vor oder ohne Kenntnis des einzelnen Beurteilten, gemeinhin die Bevölkerungsmeinung, oder das öffentliche Klima, die öffentliche Meinung, und Interpretationen, demVersuch, die Bedeutung zu erschließen, die in einem geistigen Produkt (Kunstwerk, Text) steckt oder der Versuch, dem einem Sachverhalt innewohnenden Sinn zu erschließen.
    (Seltsam, eigenartig, eigentümlich, komisch, merkwürdig, obskur, sonderbar, ungewöhnlich, wunderlich, ominös, abenteuerlich, aberwitzig, absurd, dubios, anrüchig, dunkel, ausgefallen, atypisch, aus dem Rahmen fallen(d), eigenwillig, sperrig, unangepasst, unbequem, ungewöhnlich, ungewohnt, unkonventionell, unorthodox, unüblich, unvertraut, wie man ihn nicht alle Tage trifft, einfallsreich, erfinderisch, erfindungsreich, absonderlich, kauzig, beispiellos, aberrant, abnorm, abnormal, anomal, anormal, außer der Reihe, außertourlich, mit ungewöhnlichem Verlauf, regelwidrig, ungewöhnlich, unregelmäßig, von der Regel abweichend, befremdend, befremdlich, komisch, kurios, paradox, seltsam, skurril, sonderbar, sonderlich, verquer, wundersam, leicht verrückt, abgedreht, abgespaced, abwegig, kraus, nicht stimmig, exotisch.)

Wann starte ich den Streifzug? Zu Fuß oder mittels eines Fahrzeugs? In einer bestimmten Umgebung oder als kursorische Behandlung des Themengebiets? Wann beende ich den Streifzug? Welchen Weg schlage ich ein? Lasse ich äußere Anlässe, Beweggründe oder Ursachen oder Gelegenheiten oder Ereignisse wirken? Wird es ein Spaziergang oder eine Wanderung? Benötige ich Proviant? Wird mich die Dunkelheit überraschen? Nehme ich ein Blitzgerät mit?

Die Planungen haben schon im Frühjahr 2023 begonnen. Die Strecke bestimmen. Nordroute. Südroute. Recherchieren. Beschreibungen sichten. Material zusammentragen. Zeitpunkte bestimmen. Wegmarkierungen studieren. Ruheplätze bestimmen. Wetterdaten auswerten. GPX-Daten sichten und zusammenführen. Kartenmaterial besorgen.

Die Südroute bin ich am 15. September 2023 gewandert.

Im Winter konkretisierte ich die Planungen zur Nordroute. Und bestimme das Frühjahr, den Frühling, die Frühlingszeit, den Lenz (poetisch), wenn sich die ersten Knospen bilden und treiben, wenn die Frühblüher, die Frühjahrsblüher sich zeigen, um die Nordroute zu erwandern.

Die Nordroute mündet bei Eschhofen in die Südroute. Ich könnte gegen den Uhrzeigersinn laufen. Allein, es behagt mir nicht. Auch will ich nicht unvermittelt in Eschhofen stoppen, verharren, meinen Zustand, meine Stellung, nicht ändern, stehen bleiben. Die sorgfältig geplante Rundwanderung, bei der Start und Ziel in eins fallen, ist meine Kunst. Also im Uhrzeigersinn, der Laufrichtung der Sonne auf einer Sonnenuhr in der nördlichen Hemisphäre, auf der Nordhalbkugel nach rechts.

Wie wird es um mein Seelenleben, meinem Innenleben, der Psyche bestellt sein? Der Gesamtheit meiner inneren Vorgänge, bezogen auf meine Gefühle, Gedanken und Empfindungen?

Durchführung

Um kurz nach sechs breche ich auf. Es ist kühl, fast frostig. Kalt. Der erste Kilometer führt mich durch die Stadt, am Schafsberg vorbei. Ein wunderschöner Magnolienbaum in voller Blütenpracht. Nach dem Schafsberg die Schienen überqueren. Just dann gehen die Schranken nieder. Ein Bummelzug, ein Zug, der der Personenbeförderung dient und an jeder Station auf der Strecke anhält, weshalb er sehr lange bis zu seinem Zielort unterwegs ist, fährt vorbei.

Schon bald habe ich Staffel durchschritten. Ich wundere mich. Etwas Unerwartetes erstaunt oder irritiert mich. Gut überwachte Häuser und dem zur Schau tragen der guten wirtschaftlichen Lage, Wohlstand, versetzt mich in Erstaunen. In Erstaunen, weil ich es so nicht erwartet habe, in Hörweite der A3 und der ICE Trasse.

Ich überlege dereinst zurückzukehren, um die Bewohner, die, die in dem einem oder anderem Gebäude, einem Haus, in diesem Gebiet, in einer Wohnung wohnen und die Hauseigentümer, also diejenige Personen, die die rechtliche Herrschaft über eine Sache (Haus) – Sachherrschaft/Phantombesitz – haben, zu befragen. Was ist es, dass hier schön ist?

Nach der Unterquerung von A3 und ICE Trasse geht es gemächlich durch Felder und kleine Wäldchen, bis ich an der Neumühle vorbeikomme. Hier, so fährt es mir durch den Kopf, lässt es sich wohnen. Der Elbbach in der Nähe gurgelt freudig und der Lärm der Autos und Lastkraftwagen, die sich den Elzer Berg hoch kämpfen und das Donnern des ICE, bilden das sonore und doch ferne Grundrauschen des Limburger Beckens.

In unregelmäßigen Abständen mache ich ein Foto von mir selbst. Genauer von meinem Gesicht, der vom Haupthaar ausgesparten Vorderseite meines Kopfes, auf der die Augen, die Nase und der Mund liegen, und meinem Körperschatten, meinem ständigen Begleiter.

Offheim streife ich. Im vorbeigehen. Bald, denke ich, mache ich die erste Rast.

Der Weg führt mich vorbei am Servatius Hof, gelegen in einer Senke, einer flachen Vertiefung im Boden. Hier überkommt mich das Glück, ein sich positiv auswirkender Zufall, der Naturgeräusche. Motorenbrummen und Verkehrsrauschen ist nicht zu vernehmen. Einzig die Vögel, allen voran die Feldlerche, der Bussard, der Falke, sind zu hören. Auch Rehe lassen sich blicken. Und schauen mich stumm an.

Wieder denke ich, hier möchtest Du leben. Weiter gehen. Weiter gehen. Den aufkommenden Schmerz wegatmen. Fokussieren. Weiter gehen.

Nun ist es nicht mehr weit bis zum Offheimer Wäldchen. Dort raste ich. Dort ruhe ich mich aus. Angekommen, ruhe ich mich aus. Einfach sitzen. Ich packe mein Jausenbrot aus und trinke genüsslich frischen Gänsewein. Die Sonne verabschiedet sich in dieser Zeit hinter den Wolken. Nach einiger Zeit, der Gegenwart, das zeitliche Jetzt, spüre ich deutlich die Kühle des Vormittags. Den Vögeln zuhören. Den Wind in den Bäumen wahrnehmen. Die Gedanken schweifen lassen. Schweifen lassen. Bevor ich meine Sachen zusammenpacke. Mich aufrappel. Mich aufrichte. Aufstehe. Weiter gehen. Weiter gehen.

Gut gestärkt mache ich mich wieder auf den Weg. Die Hälfte, einer von zwei gleich großen Anteilen, habe ich noch vor mir. Am Urselthaler Hof vorbei, einem Bioland Hof. Einem christlichen Bauernhof.

Ich vergebe den Täterinnen und Tätern; ich wünsche ihnen und den Opfern Heilung durch Jesus Christus, meinem Herrn! – steht in krakeliger Schrift auf einem Holzbrett neben der Hofeinfahrt.

Durchatmen. Und wieder Verwunderung. Weiter gehen. Weiter gehen. Die Schmerzen werden nicht weniger.

Vor mir liegt die höchste Erhebung Limburgs, der Alhbacher Steinbruch. Heute einfach nur noch eine Grube, eine künstlich angelegte Vertiefung im Erdboden, mit Wasser aufgefüllt, umzäunt und Naturschutzgebiet.

Längst schon schmerzen mir die Sehnen oberhalb der Knöchel. Schmerzen.

Weiter gehen. Nur kurz stehen bleiben. Den Blick schweifen lassen. Die Kamera vors Auge heben. Müde, schläfrig, schlafbedürftig, kraftlos, ja kraftlos, auf den Auslöser drücken. Weiter gehen. Weiter gehen. Den Anstieg habe ich geschafft. Jetzt schaffe ich den Rest. Weiter gehen. Weiter gehen.

Nach Ahlbach führt mich der Weg durch die angrenzenden Felder, entlang der Bundesstraße 54 (Abkürzung: B 54), einer in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Bundesstraße zwischen Gronau an der niederländischen Grenze und Wiesbaden. Eine Gruppe Rehe hat es sich auf dem Feldrain, dem grasbewachsener Grenzstreifen zwischen zwei Äckern, gemütlich gemacht. Die hässlichen Bauten am Ortsausgang habe ich fast vergessen. Weiter gehen. Weiter gehen. Nicht nachlassen. Nicht zurückschauen. Das Tempo halten. Den Schmerz wegatmen. Weiter gehen. Weiter gehen.

Der unebene Feldweg erschwert das Fortkommen. Jeder Schritt schmerzt. Ich wandere wie auf Eiern. Ein Eiertanz, ein übervorsichtiges Verhalten, um unerwünschte Reaktionen zu vermeiden. Weiter gehen. Weiter gehen.

Der Gesang der Feldlerche nervt ungemein. In äußerst hohem Maße.

In Dietkrichen treffe ich wieder auf die Lahn, einem 245,6 km langen, rechter und östlicher Nebenfluss des Rheins. Von hier aus ist es nicht mehr weit. Zum Ziel. Zum Heim. Meinem Heim. Meiner Heimstatt. Nur noch ein kleines Stück, sage ich mir. Nur noch wenige Kilometer, sage ich mir. Die Blasen an den Fersen sind nun deutlich zu spüren. Die bilde ich mir nicht ein. Nicht ein. Die nicht. Die Knöchel und die Sehnen schmerzen. Schmerzen. Weiter gehen. Weiter gehen. Nicht stehen bleiben. Nur nicht stehen bleiben. Zählen. Jeden Schritt zählen. Eins zwei drei eins zwei drei. Atmen. Atmen. Den Kopf heben. Nach vorne schauen. Weiter gehen. Weiter gehen.

Nur noch unter der ICE Brücke durch. Nur noch unter der Autobahnbrücke durch. Nur noch auf den Dom zulaufen. Auf den Dom zulaufen. Nur noch weiter gehen. Weiter gehen. Weiter gehen. Dann links ins Tal Josephat. Der Südroute folgen. Nur noch diesen einen Kilometer. Nur noch diesen. Einen. Nur noch. Schmerzen Schmerzen. Die Füsse. Die Knöchel. Die Sehnen. Der Nacken. Die Schulter. Die linke Schulter. Schmerzen. Schmerzen. Weiter gehen. Weiter gehen. Abkürzen. Jetzt. Jetzt einfach. Schluss. Ich. Nein. Nur noch. Jetzt nicht aufgeben. Weiter. Dann. Nein. Doch. Abkürzen. Einfach abkürzen. Rechts hoch zur Pallotinerkirche. Hoch. Die Treppen hoch. An der Straße warten. Warten auf Grün. Abstützen. Mich auf den Gehstock abstützen. Auf den Gehstock. Abstützen. Warten. Atmen. Die Sonne brüllt mich an. Warten. Dann Grün. Losgehen. Stehen. Warten. Grün. Weiter gehen. An der Pizzeria vorbei. Weiter gehen. Gehen. Hoch zur Egenolf. Jetzt gleich. Bin. Ich. Da. Noch ein Bild von meinem Gesicht. Noch einmal. Zum Schluss. Der Schatten. Des Körpers. Des Wanderers.

Nach achteinhalb Stunden bin ich wieder am Ausgangspunkt angelangt.