In der Frühe aufstehen. Frisch machen. Kaffee. Dieser Part nennt sich Morgenroutine. Routinen helfen mir, so sagen es die Leute, meinen Tag zu strukturieren. Helfen mir, mich zu fokussieren. Ich fokussiere mich.
Frisch machen umfasst: Gesicht waschen. Eventuell den Körper mit einem rauen Waschlappen abreiben. Im Sommer eher mit kühlem Wasser. Im Winter mit warmen Wasser. Wenig Seife.
Eventuell bedeutet: Wahrnehmung des eigenen Körpergeruchs und Anzahl der Tage, seit dem ich das letzte mal geduscht habe.
Das Frisch machen teilt sich auf in Gesicht waschen vor dem Kaffee und dem Zähne putzen nach dem Kaffee.
Frisch machen, Teil zwei: Zähne putzen.
Nun kommt etwas, dass in Filmen, Romanen und Erzählungen oft ausgespart wird. Toilettengang. Verweilen auf dem Abort. Kacken. Urinieren. Natürlich im sitzen. Dann kann ich zugleich auf dem Smartphone lesen und mit den Fingern über das Display wischen. Seit dem ich das mache, achte ich darauf, dass ich meine Hände wasche. Vor allem, wenn ich mich erleichtert habe.
Eine Morgenroutine zu entwickeln ist nicht trivial, ein Umstand, der als naheliegend, für jedermensch leicht ersichtlich oder erfassbar angesehen wird. Alle Zutaten müssen sorgfältig komponiert und auf Verträglichkeit geprüft werden. Ich trinke beim Toilettengang keinen Kaffee.
Nach dem Frisch machen (Teil 1) bereite ich mir einen Kaffee zu. Dazu nehme ich die kleine Kaffeemühle, gebe die passende Menge Kaffeebohnen hinein und mahle die Bohnen. Der Mahlgrad ist so eingestellt, dass ich mit dem feingemahlenen Kaffeepulver köstlichen Espresso zubereiten kann. Die passende Menge Kaffeebohnen ist die, die exakt eine Cappucinotasse Kaffee ergibt. Den Kaffee selbst bereite ich in einem Espressokocher von Bialetti zu. Nach vielen Jahren als Vollautomatennutzer bin ich wieder auf die Bialetti umgestiegen. Das ist, finde ich, hygienischer. Vor allem, seit der letzten, intensiven Reinigung des Vollautomaten. Danach war mir ganz anders. Das hat meine Routinen durcheinander gewürfelt.
Den Kaffe trinke ich gerne auf der Terrasse und schaue dabei ins Grüne. Beim Blick in den Garten, beim Blick ins Grüne, erfreue ich mich vor allem an der Stieleiche, die vor unserem Garten im angrenzenden Park steht. Ich finde, diese Eiche ist mehr, weit mehr, als jeder Sakralbau bieten kann. Die Stieleiche, jede Eiche, jeder Baum, hat etwas Heiliges. Er spendet Leben. Er nährt. Er tröstet.
Routinen sollten ohne weitere Erklärungen und Begriffe verstanden werden können. Bis dahin ist es ein weiter Weg.
Sobald ich meine Morgenroutine abgeschlossen habe, setze ich mich an meinen Schreibtisch und arbeite. Daten wollen gesichtet und zu Informationen verdichtet, gruppiert und angeordnet werden. Informationen wollen mitgeteilt werden. Entscheidungen sind zu treffen. Und immer wieder zuhören. Und sich mitteilen.
Dann und wann eine Pause. Vom Schreibtisch aufstehen. Den Blick schweifen lassen. Den Gedanken nachhängen. Überlegen, was es heute noch zu erledigen gilt. Dann wieder an den Schreibtisch. Zur Abwechslung die Höhe des Schreibtischs verstellen. Eine Zeit lang im Stehen arbeiten. Und immer wieder zuhören.
Am späten Nachmittag beende ich meine Arbeit am Schreibtisch. Ich fahre den Rechner herunter. Auch das eine Routine. Ein Ritual. Eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Können alltägliche Handlungen ritualisiert werden? Ein Ritual ergeben? Wird dann nicht das Ritual profanisiert? Was passiert, wenn mein Alltag eine einzige Hoch-Zeit ist?
Meine Arbeitszeit ist gerahmt von Routinen. Zum einen von der Routine des Starts in den Arbeitstag und zum anderen von der Routine zur Beendigung des Arbeitstags. Oft vergesse ich diese Routinen und vergesse mich in der Arbeit und vergesse mich im Leben, dem andere ihren Takt vorgeben. Dann fühle ich mich nicht wohl. Ich fühle mich nicht bei mir. Solche Tage erschöpfen mich.
Die Uhr wurde wieder vorgestellt. Auch so eine Handlung, die meine Routinen durcheinander bringt. Besonders meine Schlafgewohnheit. Angewohnheit, Marotte, Eigenart, Gepflogenheit, Routine. Eine unter gleichartigen Bedingungen reflexhaft entwickelte Reaktionsweise, die ich durch Wiederholung stereotypisiert habe und deswegen beim Erleben gleichartiger Situationsbedingungen wie automatisch nach demselben Reaktionsschema ausführen kann. Stand ich gestern noch um 5 Uhr morgens auf, stehe ich heute um 4 Uhr auf. Das Aufstehen selbst gelingt mir. Der innere Zustand ist jedoch ein anderer. Ich fühle mich müde. Im Vergleich zu gestern, müder. Das wird jetzt einige Tage so anhalten. Das weiß ich aus den vergangenen Jahren. Eigentlich müsste ich Routine darin haben, mich an Zeitverschiebungen zu gewöhnen. Mich den Zeitverschiebungen anzupassen.
Die Rehe, hörte ich, passen sich der Zeitverschiebung nicht an. Das kostet sie das Leben. Weil mehr müde Pendler zu einer Uhrzeit unterwegs sind, da sonst die Rehe unter sich sind. Das sind sie nun nicht, und schon kracht es.
Zeitverschiebung kann man nicht fotografieren. Routinen auch nicht. Der binäre Code kann das nicht darstellen. Aufnahmen von Rehunfällen gibt es zur Genüge.
Analog war schöner. Sagt man. Vinyl klingt besser. Sagt man. Doch auch die Silberjodidklumpen der analogen Fotografie konnten Zeitverschiebungen nicht darstellen. Es gibt Bereiche im Alltag, in die die Fotografie nicht vordringen, nicht eindringen kann. Fotografie bleibt an den Oberflächen, an den Objekten hängen. Dennoch spricht man von der Seele der Fotografie. Oder der Seele der Kamera. Gemeint ist damit eine Fotografie, die die Seele berührt. Die in einem etwas berührt. Das können jedoch nicht die Silberjodidklumpen und auch nicht die Aneinandereihung von Nullen und Einsen sein. Chemiker lassen sich vielleicht von chemischen Verbindungen faszinieren, Mathematiker und Informatiker lassen sich durch Zahlen beeindrucken. Vielleicht.
Fotografie bildet keine Dynamik ab. Sie verschließt sich den stillen Wandlungen. Sie ist statisch. Sie friert den Moment ein. Zyklopisch, eisern, stur.
Der Morgen ist schön. Die Sonne scheint. Die Bäume im Park werfen lange Schatten auf den Rasen meines Gartens.
Und doch berührt die Fotografie meine Seele. Sie vermag etwas in mir zum Klingen zu bringen. Sie weckt Erinnerungen. Darüber denke ich oft nach. Und manchmal bin ich mir nicht sicher, ob der Prozess des Älterwerden die eigentliche Ursache ist. Für meine Sehnsucht nach Momenten, die, obschon vergangen, mein Herz erwärmen. Mich noch einmal in dem Gefühl der Vertrautheit, der Geborgenheit, der Freiheit, der Liebe, der Zärtlichkeit, des Glücks wähnen. Bevor mich der Alltag wieder hat.
In diesen Momenten verlasse ich das Profane, das Triviale, das Alltägliche und befinde mich in einer Hoch-Zeit. Und wenn es nur für einen Bruchteil einer Sekunde ist. Die Kürze der Zeit erfüllt mich mit Freude und Schmerz zugleich.
Bilder aus meiner Kindheit vermögen es nicht, mich zu berühren. Obwohl ich von den Ferienerlebnissen noch heute schwärme. Der Alltag war geprägt von festen Strukturen, Gebeten und Gewalt. Vor allem physischer Gewalt. Später dann von Verwahrlosung, grenzenlosem Vertrauen und Freiheit. Der Freiheit, Tun und Lassen – Auftreten · Benehmen · Betragen · Gebaren · Habitus · Handeln · Handlungsweise · Verhalten · Verhaltensweise – zu können, wie mir beliebt.
Nachdem ich den Rechner heruntergefahren, die Heizung abgedreht und die Schreibtischlampe gelöscht habe, gehe ich hinunter ins Erdgeschoss. Im Sommer brauche ich die Heizung nicht abzudrehen, ich heize dann nicht. Auch ist es hell genug, so dass ich meine Schreibtischlampe nicht anschalten und zum Ende des Arbeitstages wieder ausschalten muss. Ich gehe hinunter, einer Richtung folgend, die tiefer liegt als mein momentaner Standort. Ich gehe nach unten. In die Küche. Ich schaue in den Kühlschrank. Ich schaue in den Vorratsschrank und stelle die Zutaten für das Abendessen zurecht. Unter der Woche kredenze ich leichte, schnelle Gerichte. Gerichte, die in etwa einer halben bis ganzen Stunde zubereitet sind.
Der Rest des Tages ist schnell erzählt. Mit E. zusammen zu Abend essen. Abspülen und die Küche in einen sauberen Zustand versetzen. Dann finden wir uns auf dem Sofa wieder. Schauen die Abendnachrichten und anschließend einen Film oder eine Serie. Danach ziehe ich mich in meine Bibliothek zurück. Manchmal, wenn ich sehr müde bin, gehe ich auch direkt ins Bett.
Diese alltäglichen Abläufe, zumeist in Routinen eingebettet, ergeben keine spannende Erzählung. Fotografien vom Alltag sind zumeist belanglos. Öde. Sie fesseln nicht. Sie versprechen keinen Überraschungsmoment. Der Alltag, so scheint es, lässt sich durch Fotografie nicht darstellen.
In den Gegenständen, Routinen und Situationen des Alltags formen sich gesellschaftliche Sachverhalte aus, die meine Persönlichkeitsentwicklung in grundlegendem Maße prägen. Alltagsfotografie isoliert das einzelne Objekt aus der Welt und liefert es meiner begreifenden, meiner ergreifenden Betrachtung aus.
Die Fotografie zeigt nicht die Gesamtheit des Alltags. Das ist ihr Manko und zugleich ihre Stärke. Aus der Abfolge von unzähligen Handlungen, Gesten und Situationen, die meinen Alltag prägen, gilt es diejenigen herauszuarbeiten, die im Stande sind, etwas über meinen Alltag zu erzählen. Die Fotografie wird zu einem sezierenden, messerscharfen Panoptikum meiner selbst.
Mit der Methode des Journaling und des Mindmappings erfasse ich meinen Alltag. Akribisch notiere ich, was ich tue. Wann ich es tue, warum ich es tue, mit wem ich etwas tue. Und für wen ich etwas tue. Ich notiere die inneren Zustände, wenn ich etwas tue. Die Gedanken. Und die Sehnsüchte.
Meine Fotografien beanspruchen nicht, meinen Alltag zu zeigen. Sie sind Anker-Bilder. Sie sind Plateaus, die es den Betrachtenden ermöglichen, einen Bezug zu meinem Alltag herzustellen. Sie regen an, sich selbst zu Fragen, was einem im Alltag wichtig ist. Was bewegt mich? Was ist mir bis hierhin gekommen? Wie geht es nun weiter?
Sonntags frühstücken E. und ich immer gemeinsam. Meine Aufgabe besteht darin, beim Bäcker frische Brötchen zu holen, während E. den Tisch deckt. Ihren Kaffee bereitet sie selbst zu, so wie ich mir meinen Espresso selbst zubereite. Selten haben wir sonntags statt Brötchen Brot auf dem Tisch. Oder einen Hefezopf. Dass sind dann nichtalltägliche Ausnahmen.
Ich möchte nicht aus meinem Alltag ausbrechen. Ich wüsste auch nicht wie. Oder wohin. Schon gar nicht wüsste ich, wie es dann weitergeht. Was ich dann machen würde. Kleine Fluchten? Ich möchte auch nicht wer anderes sein. Ein jeder hat doch seine Bürde zu tragen. Eine Bürde tragen gehört nicht zum deutschen Grundwortschatz. Und doch hat jeder seine Last.
Seit meiner späten Jugend versuche ich mein Leben so zu gestalten, dass ich weder urlaubsreif noch ausgebrannt bin. Das stellt mich vor die Herausforderung, meinen Alltag so zu gestalten, dass er mich weder in einen eintönigen, ermüdenden Dämmerschlaf führt, noch mich überfordert und in einer Flucht endet. Einer Flucht vor mir selbst? Einer Suche nach mir selbst?
Routinen geben mir eine äußere Form, in die ich, tief eingebettet, den alltäglichen Situationen begegnen kann. Aufgeschlossen und auch mal ungewöhnlich agierend. So wie im Taijiquan die Form einen Rahmen bildet. Habe ich die Form erlernt, die Abfolge der Gesten, dann fühle ich mich sicher. Jetzt kann ich mich der inneren Arbeit widmen. Die Gesten in ihren Feinheiten ausgestalten und modellieren. Die Struktur der Bewegung, der Abfolge, der Gefühle spüren. Und verstehen. Ich lerne zu regulieren. Ich erwarte keine Offenbarung.
Auch meinen Alltag reguliere ich. Ich wende Kniffe an. Wie in der Fotografie. Die Fotografie ist die Kunst der Kniffe.
Veränderungen sind ein Lebenselixier. So wie die Jahreszeiten, die Tageszeiten, die Lebensphasen sich stetig wandeln. Routinen die mir heute helfen, meinen Alltag zu meistern, können sich morgen schon als Albtraum entpuppen, sich aus dem Puppenstadium lösen beziehungsweise aus der Puppe schlüpfen und sich zu einer höheren Form entwickeln.
Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.
Mein Alltag orientiert sich am Weltenlauf, am Weltprozess. Beginn. Aufschwung. Ernte. Geradheit. Die Geradheit, die Richtigkeit sorgt dafür, dass der Verlauf der Dinge nicht abdriftet. Nur dann beginnt ein neuer Aufschwung, stellt sich erneut die Ernte ein. Das ist der Lauf der Welt. Und er ist Vorbild für (meinen) Alltag. Dieser Alltag kennt keinen endgültigen Schluss, keine (angekündigte) Apokalypse. Solange der Verlauf des Alltags, des Prozesses, reguliert wird, führt jedes Ende (des Tages) zugleich einen neuen Anfang herbei. Die Band Ton Steine Scherben dichtete “Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten”. Der Verlauf ist ein ständiger Übergang. Mein Tod ändert nichts am Alltag. Lediglich ich, als Zugabe, bin dann nicht mehr. Der Globus dreht sich weiter.
Einmal yin – einmal yang, das ist der Weg.
Routinen, die sich verfestigen, Rituale, die unhinterfragt ausgeführt werden, Traditionen (das haben wir schon immer so gemacht), Normen, die Verhalten festlegen, Vor-Urteile, die Menschen ein- und vor allem ausgrenzen, Rollenfestschreibungen, sind Positionen, die den Prozess ins stocken bringen. Verwandlung, also Veränderung, eine Revolution für das Leben, ist dann nicht mehr oder nur sehr schwer möglich.
Fotografien fixieren Zustände (hier ein yin, da ein yang) und machen dies anschaulich. Schau, so ist es gewesen. Eine Fotografie als solche setzt keine Normen, keine Regeln. Menschen und Organisationen und Institutionen setzen Normen und definieren Regeln, die anzuwenden sind. Menschen setzen sich selbst Regeln und definieren Ziele, die sie erreichen wollen. Sie optimieren sich. Sie erwarten eine Offenbarung. Sie hoffen auf die Apokalypse (als Ausweg aus dem Kapitalismus).
Während eine Fotografie keine Regeln setzt, setzen Menschen Regeln fest, wie zu fotografieren ist, was zu fotografieren ist, wozu Fotografien zu nutzen sind und was sie beim Befolgen der Regeln bewirken werden. Das sind die Wirkmechanismen des Universums der technischen Bilder. Ein Kreislauf, der sich selbst bedeutet, kein Prozess, der die Welt bedeutet.
Im Winter stellen wir die Kübelpflanzen dicht beisammen, umwickeln sie mit Jutesäcken, um die Wärme zu halten und die Pflanzen vor Frost zu schützen. Mit Tannenzweigen decken wir den Wurzelballen ab. So können die Pflanzen sich in den Winter zurückziehen, um im Frühjahr auszutreiben und junge Triebe wachsen zu lassen.
Meinen Alltag, der von den Jahreszeiten geformt wird, bilde ich ab, indem ich zeige, was ich sehe. Ich zeige nicht, wie ich ausschaue, wenn ich etwas sehe. Etwas erblicke. Das Selfie ist mir fremd. Ich bin mir dann fremd.