Geduld

Die oberste Tugend, so würde Tesson in seinem Roman Der Schneeleopard dem Fotografen Munier in den Mund legen, sei die Geduld.

Die Freunde wussten das und stellten sich der Herausforderung. Der Geschwindigkeit und der Ruhelosigkeit des Roadtrips stellten sie immer wieder Momente der Ruhe, der Geduld und der Einkehr entgegen.

Mitten auf dem Salzsee, in der Nähe der Bonneville Salt Flats, übte sich Büttner am Steuer des Fahrzeugs in Geduld.

Mal warteten sie auf einem Salzsee, in Erwartung des Startsignals, um, der Blue Flame gleich, einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. Ein andermal harrten sie im Schatten von Autowracks aus, in der Erwartung von ihnen um die Ohren schwirrenden Bleimantelgeschossen.

Zerschossen, lange vor unserer Ankunft.

Einer Eingebung folgend stöpselte Büttner sein Joghurtbechertelefon in eines der Einschusslöcher der Autowracks ein, wartete auf das Freizeichen, wählte die Nummer von Kampmann und wartete. Bohl und Reuss machten sich derweil abermals auf die Suche des legendären 48er Pack Miller Bier. Sie sollten, das sei an dieser Stelle verraten, ohne ein greifbares Ergebnis zu Büttner zurückkehren.

Kampmann nahm nicht ab. Kampmann hatte sein Joghurtbechertelefon auf lautlos gestellt, da er ungestört mit Maurizio über Gott und die Welt philosophieren wollte.

Während Büttner dem Tuten im Joghurtbechertelefon sinnbefreit lauschte, machten es sich seine Gedanken und Erinnerungen gemütlich und schweiften in die Zeit ab, da es die Autowracks noch nicht gab, weil Oatman, der Ort, an dem er sich befand, auch mal bessere Zeiten gesehen hatte. Doch was heißt hier besser? Für wen bzw. aus wessen Sicht war wann etwas besser? Die, die hier schon seit Anbeginn der Zeit waren, die, die von den Siedlern, den Europäern, Wilde genannt und zur Ausrottung freigegeben waren, diese sahen in dieser «besseren Zeit», das, was sie eigentlich war: die Ausrottung ihres Volkes und ihrer Kultur.

Heute beeilte sich der aufgeklärte Europäer «Indigene» oder «Native» zu ihnen zu sagen, was, so Büttner, absoluter Quatsch ist. In langen Gesprächen mit den Menschen wurde ihm klar, dass das Konzept der «Indigenen» und der «Natives» eines der kolonialistischen Europäer war. Der aufgeklärte Europäer hielt also weiter am Erbe der mittelalterlichen Kirche fest.

Auch so konnte Vernichtung aussehen.

Mit lautem Hupen rissen Bohl und Reuss Büttner aus seinen Überlegungen. Er stöpselte das Joghurtbechertelefon aus, wickelte das Kabel auf und verstaute beides in seinem Haversack. Whatsap, rief er ihnen Augenzwinkernd zu, habt ihr das 48er endlich ergaunert?

Später am Abend, Büttner hatte das Lagerfeuer entfacht, saßen die Freunde im Rund, besprachen den Tag und den nächsten Tag und den nächsten und den nächsten. Sie tranken Miller Bier. Und nach 24 Dosen war die Party zu Ende.

Während sich die Freunde in ihre Schlafsäcke einrollten und ihre Blicke zum Firmament richteten, schrieb Büttner im Schein des erlöschenden Feuers seinen Vortrag Konzepte der Unterdrückung – Europa, Humanismus und die Menschenrechte.

Soundtrack: Lord Invader, Rum and Coca Cola, Calypso At Midnight, Rounder Records, 1999