Hoch und höher

Cottonwood Pass, Colorado

Büttner konnte sich an den Cottonwood Pass, wie an viele andere Orte der Reise, nicht mehr erinnern. Waren sie wirklich hier gewesen? Auch Bohl, den er Jahre später befragte, konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber die Fotografie, die Büttner in den Händen hielt, wies eindeutig darauf hin, dass sie dort gewesen waren.

Magisch, aber nur, weil ihnen die Erinnerung an den Ort abhanden gekommen war.

Die Trennung des Landes sah Büttner im Cottonwood Pass episch repräsentiert. Hier teilt sich der Atlantik vom Pazifik. Hier entscheiden sich die Flüsse für die eine, oder die andere Richtung. Entweder auf nach Westen, nach Kalifornien, wie es einst Steinbeck in Früchte des Zorns beschrieben hat, oder nach Osten, zu den Lobbster-Fischern und der wirklich alten Welt.

An diesem Ort fühlte sich Büttner Pirsig sehr nahe, obwohl dieser diesen Pass in keinem seiner Werke erwähnte.

Doch was nutzte das ganze fabulieren und empfinden, wenn es keinerlei lebendige Erinnerung an diesen Ort gab? Über was, so grübelte Büttner, solle er schreiben? Woran eine Geschichte entwicklen? Wo war der erzählerische Faden? Welche Geschichte erzählte dieses Bild? Welche dieser Ort?

Es blieb bei dem faktischen, dem langweiligen, dem trögen „ihr wart dort, Punkt.“ Keine Anekdote wollte sich offenbaren. Selbst ein wissenschaftlicher, ein faktischer, ein toter Text schien unmöglich.

Das hatte Büttner noch nie erlebt, dass sich keine Erinnerungen, keine Metaphern, keine Anekdoten einstellen wollten. Als ob mit einem Mal alle induzierten Erinnerungen stiften gegangen wären.

Wie waren sie überhaupt hier her gekommen? Sie waren zuvor in Gunnison gewesen. Da war sich Büttner sicher. Denn er war schon einmal dort. Im Jahr 1987, oder 1985. So genau wusste das Büttner nicht mehr. Er hatte damals seine Cousine besucht, die dort studierte. Das aber war nun schon lange her. Wie waren sie jetzt nach Gunnison gekommen? Denn von dort aus mussten sie die Straße über den Cottonwood Pass genommen haben. Bohl, das hatte Büttners Befragung ergeben, war verblüfft, dass sie dereinst an einem so hohen Punkt gewesen waren. Bisher ging er davon aus, dass die Besteigung der Zugspitze sein größtes Höhenerlebnis war. Da lag er aber falsch. In der Folge war Bohl damit beschäftigt, seine Biografien sämtlich umzuschreiben. Das war auch bitter nötig, wollte er nicht in eine Depression verfallen.

Wo aber waren sie, bevor sie in Gunnison Station machten? Waren sie direkt aus Durango gekommen? Büttner zweifelte am Sinn des Rückwärtsfahrens. Also den Weg von hier, dem Cottonwood Pass, im Geiste zurück bis zum Anfang zu fahren, in der Hoffnung, so zu erfahren, warum sie hier waren und welche Erinnerungen er haben müsste. Es würde nichts bringen, denn die Erinnerungen waren weg.

Die wichtigste Frage aber war: Wie hatten sie dieses Bild anfertigen können? Sie hatten doch alle induzierten Bilder vergessen, alle Erinnerungen. Und doch gelang ihnen diese Fotografie. Woraus speiste sich diese Fotografie, wenn nicht aus Erinnerungen? War das nicht ein schwarzes Loch, dass in den Erinnerungsstrom gerissen wurde? Hatten sie sich der automatischen Fotografie hingegeben? In Trance die Camera aufgebaut, im Delirium den Film belichtet?

Verzweifelt begab sich Büttner in das Bild hinein. Zögerlich betrat er das Asphaltband, sprang sofort zurück, um dem laut hupenden Tanklaster aus dem Weg zu gehen. War das nicht der Tanklaster, vor dem David in seinem Plymouth Valiant versuchte zu entkommen? Irritiert blickte Büttner dem Tanklaster hinterher. Nach dem er neuen Mut gefasst hatte, betrat er wieder das Asphaltband, um geschwind auf die andere Straßenseite zu gelangen. Hinüber zu dem Schild, auf dem in großen amerikanischen Lettern Cottonwood Pass stand. Er kletterte auf dem nebenstehenden Felsbrocken und blickte sich um.

Weit und breit waren keine Erinnerungen zu erblicken. Doch plötzlich fühlte er die Wärme, die Energie, von Kampmann neben sich. „Kampmann“ rief Büttner, „zeig Dich!“.

Soundtrack: Alva Noto & Sakamoto, Aurora, Insen, Raster-Noton, 2005

Nachtrag: Büttner fasste dieses beunruhigende Erlebnis in seinem Vortrag Über die Widerständigkeit der Bilder zusammen. Den Vortrag hielt er später in Rifle vor einem desinteressierten Publikum von Farmern und Besserwissern.