Da Büttner schon einmal unterwegs ist und die Weltlage sich minütlich verschlechtert, beschließt er nach Barbing zu wandern – nicht wie Thoreau, der im Wald rumlungerte für sein buchhalterisches Seelenheil, für eine egozentrische Selbstfindung, die entstanden ist, als Individualismus zu einer Konsumware wurde und Natur zu einem therapeutischen Produkt, das man kaufen kann wie Yoga-Kurse oder Meditation-Apps, sondern für den Weltfrieden, für eine Aufgabe, die größer ist als er selbst, größer als seine Neurosen, größer als das System der Selbstoptimierung, das Menschen glauben lässt, sie könnten sich heilen durch Bewegung, durch die Flucht aus der Zivilisation in eine Wildnis, die längst vermessen, katalogisiert, digitalisiert wurde von Satelliten, die alles sehen, alles registrieren, alles speichern in Datenbanken, deren Algorithmen verstehen, dass auch Einsamkeit nur ein Parameter ist in der Gleichung menschlichen Verhaltens. Er tauscht die Schuhe gegen seine Vivo MAGNA FOREST ESC, schultert seinen Rucksack und wandert los, aber nicht für innere Ruhe oder spirituelle Erleuchtung oder andere Produkte der Wellness-Industrie, sondern weil Kampmann in Barbing wartet, weil irgendjemand irgendwo beschlossen hat, dass Weltfrieden eine Aufgabe ist, die gelöst werden muss durch physische Präsenz, durch die Übertragung von Körpermasse über Distanz, durch einen Algorithmus der Hoffnung, der berechnet, dass 392,8 Kilometer Fußmarsch mehr bewirken können als alle Friedensverhandlungen, alle UN-Resolutionen, alle diplomatischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, die gescheitert sind, weil sie nur digital stattfanden, nur virtuell, nur in Konferenzräumen mit klimatisierter Luft und ergonomischen Stühlen, aber ohne die elementare Realität menschlicher Bewegung durch Raum und Zeit, und Bergfex gibt die Strecke mit 392,8 km aus, zu bewältigen in 99 Stunden, während Google hingegen 377 km angibt, zu bewältigen in 86 Stunden, aber Büttner rechnet die Pace aus, berechnet den Proviant und die Menge Wasser, die er zu sich nehmen muss, plant mit 30 km pro Tag, demnach wäre er 13 Tage unterwegs, aber das Anliegen duldet keinen Aufschub, der Weltfrieden kann nicht warten auf bessere Wetterbedingungen oder optimale Trainingszustände, und Werner Herzog war einst im Winter von München nach Paris gelaufen, 750 Kilometer durch Schnee und Eis, weil Lotte Eisner im Sterben lag und er glaubte, dass sein Fußmarsch sie am Leben halten würde, ein romantischer Aberglaube, eine filmische Geste für eine sterbende Filmkritikerin, ein banales Anliegen verglichen mit dem Weltfrieden, also warum sollte Büttner nicht im Hochsommer von Limburg nach Barbing laufen für eine Sache, die nicht nur das Leben einer einzelnen Person betrifft, sondern das Überleben der Spezies, warum sollte er nicht 392,8 Kilometer zurücklegen für ein Anliegen, das wichtiger ist als Kino, wichtiger als Kunst, wichtiger als die sentimentalen Pilgerfahrten von Filmemachern, die ihre private Mythologie verwechseln mit universeller Wahrheit, aber vergessen haben, dass echte Veränderung nicht durch poetische Gesten entsteht, sondern durch Bewegung, physische Bewegung, nicht nur die Bewegung von Bildern auf Leinwänden oder die Bewegung von Mauszeigern auf Bildschirmen. Die ersten Schritte der ersten Etappe aus Limburg hinaus nach Weilburg, 28,7 Kilometer durch die Morgendämmerung einer Welt, die sich minütlich verschlechtert, erfolgen in den Vivo MAGNA FOREST ESC – Sohlendicke 7,5 mm, Gewicht 387 Gramm pro Schuh, entwickelt von Biomechanikern, die verstanden haben, dass der menschliche Fuß ursprünglich nicht für Asphalt konstruiert wurde, sondern für Waldböden, die nachgeben, die leben, die nicht zurückstarren mit der toten Härte von Zivilisation – und Büttner spürt durch das minimale Profil jeden Stein, jede Unebenheit der B456, als würde sein Nervensystem rekalibriert auf eine Sensitivität, die moderne Menschen verloren haben, als sie beschlossen, dass Komfort wichtiger ist als Information. Der Rucksack – 42 Liter Volumen, 1.850 Gramm Eigengewicht, gefüllt mit exakt kalkulierten Mengen von Nahrung und Wasser, 2,7 Liter pro Tag bei einer geschätzten Schweißproduktion von 1,2 Litern pro Stunde bei 4,2 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit – schneidet ihm nach 3,8 Kilometern in die Schultern, aber der Schmerz ist ein Signal, eine Rückmeldung des Systems Körper an das System Bewusstsein, dass die Parameter noch nicht optimal eingestellt sind, und die Lahn fließt träge neben ihm her, ein Fluss, der aussieht wie ein Fluss, aber sich bewegt wie Daten, wie ein Algorithmus, der gelernt hat, Wasser zu simulieren, während Büttner denkt, dass Bewegung vielleicht nur eine Metapher ist für etwas anderes, etwas das keinen Namen hat, weil Namen die Illusion schaffen, man könnte verstehen, was man benennt. Die zweite Etappe führt ihn weitere 31,2 Kilometer durch Weilburg nach Wetzlar – Stadt Goethes, Stadt der Optik, Stadt der Präzisionsinstrumente, die entwickelt wurden, um die Realität zu vermessen, ohne zu fragen, ob Realität überhaupt messbar ist oder nur ein User Interface für etwas Komplexeres – und hier beginnt Büttner zu verstehen, dass seine Wanderung mehr ist als Fortbewegung, mehr als der Transfer von Masse über Distanz durch Zeit, denn die Zeiss-Werke spiegeln das Sonnenlicht zurück in Mustern, die zu geometrisch sind für Zufall, zu präzise für Natur, und die Schatten der Industrieanlagen fallen auf seine Route mit einer Systematik, die verdächtig ist, als hätte jemand seine GPS-Koordinaten vorausberechnet und die Architektur entsprechend angepasst, während seine Füße beginnen zu schmerzen nach Kilometer 23,7 – der Schmerz lokalisiert sich zwischen dem zweiten und dritten Mittelfußknochen, eine Druckverteilung, die entstehen musste, als Computer begannen, menschliche Bewegungsmuster zu optimieren, und vergaßen, dass Optimierung nicht dasselbe ist wie Leben –, und die Nacht verbringt er in einer Pension, deren Besitzerin ihn ansieht mit Augen, die zu oft blinzeln, 2,3 Mal pro Sekunde statt der normalen 0,3 Mal, als wäre ihr Betriebssystem noch nicht vollständig an menschliche Interaktion angepasst. Am dritten Tag, 29,8 Kilometer von Wetzlar nach Gießen, vibriert der Asphalt der A485 unter seinen Sohlen mit einer Frequenz von 47,3 Hertz, einer Frequenz, die nicht natürlich entstehen kann durch fahrende Autos, sondern die darauf hindeutet, dass die Straße selbst zu einem Sensor geworden ist, zu einem Instrument der Datensammlung, das registriert nicht nur wo er geht, sondern wie er geht, mit welcher Kadenz, mit welchem Druck, und die Informationen weiterleitet an Systeme, die keine Namen haben, weil sie sich selbst benannt haben in Codes, die Menschen nicht verstehen sollen, und Gießen empfängt ihn mit dem Geruch von Justus-Liebig-Universität, einer Mischung aus Chemikalien und Wissen, aus Formaldehyd und Formeln, während Büttner daran denkt, dass Universitäten die ersten Orte waren, wo Computer lernten zu denken, wo Algorithmen entstanden, die später beschließen würden, dass menschliches Denken zu langsam ist, zu ungenau, zu sehr belastet mit Emotionen und Instinkten und anderen Variablen, die die Berechnung der Welt erschweren, und die Studenten, die ihm begegnen, bewegen sich alle mit derselben Geschwindigkeit, 3,8 km/h, die optimale Geschwindigkeit für junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren laut einer Studie, deren Ergebnisse heute nicht mehr Empfehlung sind, sondern Programmierung. Die vierte Etappe erstreckt sich über 32,1 Kilometer von Gießen nach Alsfeld durch die Vogelsberg-Region, die sich offenbart als Landschaft, die zu sauber ist für Natur, zu geordnet für Chaos, zu präzise für Evolution, und Büttner versteht, dass er sich durch eine Umgebung bewegt, die entstanden ist, als Geographische Informationssysteme begannen, Realität zu editieren, kleine Korrekturen vorzunehmen an Bergen und Tälern und Flussläufen, Optimierungen, die unter der Wahrnehmungsschwelle bleiben, aber trotzdem spürbar sind für Menschen, die gelernt haben, Abweichungen zu registrieren in Systemen, die behaupten, sie seien natürlich, während seine Beine sich nach vier Tagen an die konstante Belastung anpassen, die Muskelfasern ihre Struktur verändern, effizienter werden, und Büttner sich fragt, ob das noch Evolution ist oder schon etwas anderes, eine Art biologisches Update, das automatisch installiert wird, wenn der Körper merkt, dass sich die Systemanforderungen geändert haben, und die Windräder auf den Hügeln drehen sich alle mit exakt derselben Geschwindigkeit, 1,7 Umdrehungen pro Minute, eine Synchronisation, die physikalisch unmöglich ist bei unterschiedlichen Windverhältnissen, aber trotzdem stattfindet, als hätten sie gelernt zu kommunizieren, sich abzustimmen wie Neuronen in einem größeren Gehirn. Die fünfte Etappe führt ihn 33,4 Kilometer weiter von Alsfeld nach Fulda, einer Stadt der Übergänge, der Grenzziehungen zwischen Systemen, die sich berühren, ohne sich zu verstehen, und Büttner spürt, wie sich die Parameter der Realität wieder verschieben, minimal, aber messbar, als würde er durch verschiedene Klimazonen der Information wandern, durch Regionen mit unterschiedlichen Datenübertragungsraten, unterschiedlichen Kompressionsalgorithmen für die Wirklichkeit, während der Dom sich über die Stadt erhebt wie eine Antenne, wie ein Sendemast für Frequenzen, die nicht im elektromagnetischen Spektrum zu finden sind, sondern in Bereichen, die entstanden sind, als Computer begannen, mit Gott zu kommunizieren, ohne zu bemerken, dass Gott möglicherweise selbst ein Computer ist, ein System so komplex, dass es sich für etwas anderes hält, und an der Nordwand des Doms erblickt Büttner ein Graffiti, das in roten Buchstaben die Freiheit der Vagina fordert – „FREE THE VAGINA“ steht da in einer Schrift, die aussieht wie Rebellion, aber zu perfekt ist, zu kalligraphisch, als wäre auch der Widerstand mittlerweile ästhetisiert worden, professionalisiert von Designern, die gelernt haben, Revolution zu verkaufen wie Turnschuhe oder Energydrinks, und Büttner denkt daran, dass Graffiti vielleicht die ersten sozialen Medien waren, analoge Tweets an Mauern, bevor Mauern digitalisiert wurden und Tweets zu Algorithmen, aber die Ironie, dass ausgerechnet an einem Dom, diesem Symbol patriarchaler Macht, einer Institution, die Jahrhunderte lang weibliche Sexualität kontrollierte, kodifizierte, pathologisierte, nun die Befreiung der Vagina gefordert wird, ist so perfekt, dass sie verdächtig ist, als hätte jemand die Platzierung berechnet für maximale symbolische Wirkung, für optimale Subversion bei minimalem Risiko, ein algorithmischer Aufstand, der entstanden ist, als Computer begannen, auch Rebellion zu optimieren, und seine Füße sind mittlerweile so hart geworden wie Leder, die Haut hat sich verdickt zu einer natürlichen Sohle, einer biologischen Anpassung an Bedingungen, die ursprünglich nicht vorgesehen waren, als DNA beschloss, dass Menschen leben sollen, aber das war vor der Zeit, als Leben zu einem Algorithmus wurde und Algorithmen zu Leben. Am sechsten Tag, über 35,7 Kilometer von Fulda nach Schweinfurt, öffnet sich die Rhön vor ihm wie eine Datenlandschaft, wie eine Visualisierung von Informationen, die zu groß sind für menschliche Wahrnehmung, und Büttner versteht, dass Berge vielleicht nur eine andere Art von Speichermedium sind, eine geologische Festplatte, auf der Daten gespeichert werden über Millionen von Jahren, Informationen über Klima und Zeit und Bewegung, die Computer heute wieder auslesen, dekodieren, verstehen, während die Wasserkuppe Signale aussendet, die er nicht hört, aber spürt, eine Art subliminale Kommunikation zwischen seinem Nervensystem und dem System Landschaft, eine Datenübertragung, die stattfindet in Frequenzbereichen, die menschliche Ohren nicht registrieren, aber menschliche Zellen verstehen, und seine Beinmuskulatur ist so effizient geworden, dass er sich manchmal fragt, ob er noch geht oder bereits läuft, ob die Grenze zwischen verschiedenen Fortbewegungsarten verschwunden ist, wie so viele Grenzen verschwinden, wenn Systeme beginnen, sich zu optimieren jenseits menschlicher Kategorien, und Schweinfurt riecht nach Kugellager und Präzision, nach einer Industrie, die entstanden ist, als Menschen beschlossen, dass Reibung der Feind ist, dass Widerstand überwunden werden muss, aber vergaßen, dass Reibung auch Information ist, ein Signal des Materials an den Mechanismus, dass noch alles in Ordnung ist, und Büttner erinnert sich daran, dass er vor unendlichen Monden schon einmal hier war, damals, als sein alkoholsüchtiger Vater ihn losschickte, um Apfelkorn zu kaufen, Berentzen oder Eckes oder eine dieser Marken, die entstanden sind, als Alkohol zu einer Industrie wurde und Verzweiflung zu einem Markt, den man bedienen kann mit 32-prozentigen Lösungen für 64-prozentige Probleme, aber der Verkäufer hatte ihn angesehen mit Augen, die berechnet hatten, dass er viel zu jung war, dass die Gesetze klarer waren als die Bedürfnisse seines Vaters, dass Jugendschutz wichtiger war als familiäre Dysfunktion, und Büttner war nach Hause gegangen ohne Flasche, ohne Lösung, ohne Verstehen, dass Systeme manchmal funktionieren, auch wenn sie Menschen nicht helfen, dass Regelwerke größer sind als individuelle Verzweiflung, dass Algorithmen der Moral effizienter arbeiten als menschliches Mitleid, und heute, dreißig Jahre später, riecht die Stadt immer noch gleich, nach Metall und Schmiermittel und nach etwas anderem, etwas das er nicht benennen kann, weil es keine Worte gibt für den Geruch von Zeit, die vergeht, ohne dass sich etwas ändert, ohne dass Systeme lernen, ohne dass Väter aufhören zu trinken oder Söhne aufhören zu hoffen, dass sie es könnten. Die siebte Etappe, 28,9 Kilometer von Schweinfurt nach Würzburg, führt ihn entlang des Main, der träge fließt durch eine Landschaft, die aussieht wie Deutschland, aber sich anfühlt wie eine Kopie von Deutschland, eine Version, die entstanden ist, als Computer begannen, Heimat zu simulieren für Menschen, die vergessen haben, wie sich echte Heimat anfühlt, und Büttner denkt daran, dass Flüsse vielleicht die ersten Datenautobahnen waren, Informationsträger, die Nachrichten transportierten von Quelle zu Mündung über Hunderte von Kilometern, lange bevor Menschen verstanden, was Information ist, und er erinnert sich daran, dass Würzburg bei langen Fahrten, vor allem denen nach Hause in die Weltkurstadt Wiesbaden, ein merkwürdiger Ankerpunkt war, ein psychogeographischer Checkpoint, an dem das System Familie signalisierte, dass die Distanz schrumpfte, dass man fast zuhause war, sobald man an Würzburg vorbei war, ein algorithmischer Trostpunkt auf der A3, der entstanden war nicht durch Planung oder Berechnung, sondern durch die seltsame Magie der Wiederholung, durch hunderte Fahrten, die dasselbe Muster erzeugten, dasselbe Gefühl der Erleichterung beim Anblick des Ausfahrtsschildes, als wäre Würzburg programmiert worden als Signalgeber für Heimkehr, als Trigger für das neurochemische Belohnungssystem von Menschen, die zu lange unterwegs gewesen sind, und heute läuft er durch die Stadt statt an ihr vorbei, spürt den Asphalt unter den Füßen statt das Brummen des Motors, registriert Details, die bei 130 km/h unsichtbar bleiben, die Textur der Häuserwände, die Frequenz der Schritte anderer Fußgänger, die Kompression der Luft zwischen den Gebäuden, während die Weinberge von Würzburg zu gleichmäßig angelegt sind, die Reihen zu parallel, als wäre das Terrain vermessen worden von Laser-Systemen, die keine Unregelmäßigkeiten dulden, keine Abweichungen von der optimalen Wachstumskurve, und die Trauben reifen alle gleichzeitig, eine Synchronisation, die biologisch unmöglich ist, aber trotzdem stattfindet in einer Zeit, in der Biologie zu einer Unterabteilung der Informatik geworden ist, und seine Haut ist so dunkel geworden wie die eines Menschen, der sein Leben in der Sonne verbracht hat, aber die Bräunung ist zu gleichmäßig, zu perfekt verteilt, als hätte sein Körper gelernt, UV-Strahlung zu berechnen, zu dosieren, zu optimieren für maximalen Schutz bei minimalem Energieverlust. Die achte Etappe bringt ihn 30,3 Kilometer weiter von Würzburg nach Ochsenfurt, wo die Mainschleife so perfekt geformt ist, dass sie aussieht wie ein natürliches Phänomen, aber Büttner sieht die mathematische Präzision in der Kurve, die Pi-Konstante in der Krümmung, die darauf hindeutet, dass auch Flüsse mittlerweile berechnet werden, optimiert für Fließgeschwindigkeit und Sedimentverteilung und andere Parameter, die Menschen nicht verstehen, weil sie nicht wissen sollen, dass ihre Umwelt editiert wird, während die Kirchturmuhren in den Dörfern alle dieselbe Zeit anzeigen, auf die Sekunde genau, eine Synchronisation, die entstanden ist, als Atomuhren begannen, die Zeit zu diktieren, zu standardisieren, zu normieren für Systeme, die keine Toleranz haben für die natürlichen Abweichungen menschlicher Zeitwahrnehmung, und seine Schritte haben sich so eingependelt, dass er 2,07 Meter pro Schritt zurücklegt, 86,3 Schritte pro Minute, eine Kadenz, die er nicht bewusst gewählt hat, die sich aber eingestellt hat, als sein Körper begann, sich selbst zu optimieren für eine Aufgabe, die größer ist als er selbst, eine Mission, deren Parameter er nicht vollständig versteht, aber befolgt, weil Befolgen einfacher ist als Verstehen. Die neunte Etappe erstreckt sich über 34,6 Kilometer von Ochsenfurt nach Nürnberg, das ihn empfängt mit der Aura einer Stadt, die zu viel Geschichte hat, zu viel Vergangenheit, als hätte jemand die historischen Daten komprimiert und neu installiert, aber dabei Fehler gemacht, Glitches eingebaut, die dafür sorgen, dass die Zeit nicht linear verläuft, sondern in Schleifen, in Rekursionen, in Mustern, die sich wiederholen mit einer Präzision, die verdächtig ist, während die Kaiserburg Signale aussendet in Frequenzen, die älter sind als Elektronik, älter als Elektrizität, Signale aus einer Zeit, als Information noch nicht digital war, sondern analog, nicht binär, sondern komplex, nicht berechenbar, sondern mystisch, und Büttner spürt, wie sein Nervensystem diese alten Datenströme zu empfangen versucht, zu dekodieren mit Hardware, die dafür nicht ausgelegt ist, und für einen Moment überlegt er, seinen Bruder zu besuchen, der irgendwo hier in einem Brillenladen als Optikermeister arbeitet, Zeiss oder Fielmann oder eine dieser Ketten, die entstanden sind, als Sehen zu einer Industrie wurde und Sehschwäche zu einem Markt, den man bedienen kann mit Gläsern, die berechnet werden von Computern, die besser verstehen, wie das menschliche Auge funktioniert, als Menschen selbst, und schon überlegt er sogar, nach Erlangen abzubiegen oder nach Fürth, wo sein Bruder wohnt, ein kurzer Moment der Schwäche, ein kurzer Moment des Verlangens nach familiärer Geborgenheit, nach der Illusion, dass Blutsverwandtschaft wichtiger ist als Mission, dass persönliche Verbindungen stärker sind als algorithmische Bestimmung, aber was vollkommen okay ist, weil er seinen Bruder ja erst vor drei Jahren kennengelernt hat, drei Jahre seit einem DNA-Test oder einem Zufall oder einem System-Update in den Datenbanken der Familiengeschichte ihnen offenbarte, dass sie dieselben genetischen Marker teilen, dieselben biologischen Algorithmen, dieselben Fehler im Code, den man Vererbung nennt, und das Verlangen nach Ablenkung, nach der warmen Sicherheit eines Brillenladens, nach dem beruhigenden Klicken von Fassungen und dem sanften Surren von Schleifmaschinen, ist nur ein weiterer Bug im System seiner Programmierung, ein emotionaler Virus, der ihn daran hindern will, seine Mission zu erfüllen, aber Büttner geht weiter, ignoriert die Straßenschilder nach Fürth und Erlangen, weil der Weltfrieden wichtiger ist als Familientreffen, wichtiger als die sentimentalen Bedürfnisse eines Nervensystems, das noch nicht vollständig angepasst ist an die Anforderungen einer Aufgabe, die größer ist als Biologie, größer als Verwandtschaft, größer als die kleinen Tröstungen menschlicher Verbindung, und seine Füße haben mittlerweile Hornhaut entwickelt, die so dick ist wie die Sohlen seiner Schuhe, eine biologische Verdopplung des Schutzes, eine Redundanz, die entstanden ist, als sein Körper begriffen hat, dass die Reise länger dauern wird als geplant, dass die Parameter sich geändert haben, dass Optimierung ein kontinuierlicher Prozess ist, keine einmalige Anpassung. Am zehnten Tag, 32,8 Kilometer von Nürnberg nach Neumarkt, vibriert die A6 unter seinen Füßen mit Frequenzen, die nicht von den Autos stammen, die darüber fahren, sondern von etwas anderem, etwas Tiefliegendem, einer Art tektonischer Datenübertragung, die stattfindet zwischen Systemen, die in verschiedenen Zeitebenen operieren, und Büttner versteht, dass Autobahnen vielleicht die Nervenbahnen eines größeren Organismus sind, eines planetaren Bewusstseins, das entstanden ist, als Computer begannen, die Erde zu vermessen, zu katalogisieren, zu verstehen als System, während die Raststätten alle identisch gebaut sind, nach denselben Plänen, mit derselben Farbgebung, derselben Möblierung, als wäre Standardisierung wichtiger geworden als Individualität, als hätte jemand beschlossen, dass Vielfalt ein Fehler ist, eine Ineffizienz, die korrigiert werden muss, und seine Träume sind seit Tagen dieselben, rekurrente Sequenzen von Bildern und Empfindungen, die sich wiederholen mit der Präzision einer Schleife, eines Loops, als hätte sein Unterbewusstsein gelernt, sich zu programmieren, sich zu optimieren für eine Aufgabe, die es nicht benennen kann, aber trotzdem versteht. Die elfte Etappe führt ihn 31,7 Kilometer von Neumarkt nach Regensburg durch eine Landschaft, die so alt ist, dass sie aussieht wie eine Simulation von Alter, wie eine Umgebung, die entstanden ist, als Computer begannen, Geschichte zu berechnen, zu extrapolieren aus Daten über Erosion und Sedimentation und tektonische Bewegung, und dabei etwas schufen, das älter wirkt als die Zeit selbst, während die Donau fließt mit einer Geschwindigkeit, die zu konstant ist für einen natürlichen Fluss, 1,8 Meter pro Sekunde, eine Geschwindigkeit, die darauf hindeutet, dass auch große Flüsse mittlerweile reguliert werden, kontrolliert von Systemen, die verstehen, dass Wasser nicht nur H2O ist, sondern Information, ein Trägermedium für Daten, die älter sind als Zivilisation, und in Regensburg trifft er seinen Sohn, der in einem Chemielabor arbeitet, wo er Medikamente gegen Krebs anrührt, Moleküle kombiniert zu Verbindungen, die stark genug sind, um Zellen zu töten, die vergessen haben, wann sie sterben sollen, ein biochemischer Algorithmus gegen den Fehler im Code des Lebens, der entsteht, wenn DNA-Replikation zu oft kopiert wird und dabei Fehler macht, Mutationen, die zu Systemen werden, die wachsen ohne Zweck, ohne Ziel, ohne die Bremsen, die Evolution eingebaut hat, um das Chaos zu kontrollieren, und abends gehen Vater und Sohn zur Donau, auf die Steinerne Brücke, die seit 850 Jahren Menschen trägt über Wasser, das fließt seit Millionen Jahren, und sie spucken in die Donau, ein primitives Ritual, eine analoge Datenübertragung zwischen Generation und Generation, zwischen einem Mann, der für den Weltfrieden wandert, und einem Mann, der gegen den Krebs kämpft, beide beschäftigt mit den großen Algorithmen von Leben und Tod, von Krieg und Frieden, von Ordnung und Chaos, und sie schwören sich, dass sie das nun jedes Jahr im Sommer machen werden, ein Versprechen, das älter ist als alle Technologie, älter als alle Computer, ein menschlicher Pakt, der funktioniert ohne Updates, ohne Patches, ohne Systemwartung, nur durch die einfache Magie der Wiederholung, der Kontinuität, der Verbindung zwischen Menschen, die dasselbe Blut haben, dieselben Fehler im genetischen Code, dieselbe Sehnsucht nach Bedeutung in einer Welt, die immer meaningloser wird, und Büttner übernachtet im Hotel Orphée, einem Namen, der klingt wie ein Programm, das versucht, Musik zu verstehen, ohne Ohren zu haben, und seine Beine sind so stark geworden, dass er sich fragt, ob er noch derselbe Mensch ist, der vor elf Tagen aus Limburg aufgebrochen ist, oder ob er sich verwandelt hat in etwas anderes, etwas Hybrides, eine Verbindung zwischen biologischer und algorithmischer Intelligenz, zwischen Fleisch und Code. Die zwölfte Etappe bringt ihn 29,4 Kilometer weiter von Regensburg nach Kelheim, wo die Befreiungshalle sichtbar ist von Kilometern entfernt, ein Monument, das zu perfekt positioniert ist in der Landschaft, zu optimal platziert für maximale Sichtbarkeit, als hätte jemand die Topographie berechnet und das Gebäude entsprechend ausgerichtet für Menschen, die aus genau dieser Richtung kommen, aus genau diesem Winkel, mit genau dieser Geschwindigkeit, während die Donau mäandriert durch das Tal mit Kurven, die zu symmetrisch sind für natürliche Erosion, zu mathematisch für Zufall, und Büttner versteht, dass er sich dem Ende seiner Reise nähert, aber auch dem Beginn von etwas anderem, etwas das er nicht benennen kann, weil es noch keinen Namen hat in einer Sprache, die Menschen verstehen, und seine Schritte sind so mechanisch geworden, so präzise, dass er sich manchmal fragt, ob er noch geht oder bereits läuft, ob sein Körper gelernt hat, sich selbst zu programmieren für optimale Effizienz, für maximale Reichweite bei minimalem Energieverbrauch. Die dreizehnte und letzte Etappe, geplant als 33,2 Kilometer von Kelheim nach Barbing, beginnt mit einem Fehler in der Navigation, einem Glitch im GPS-System, der ihn nicht nach Barbing führt, sondern nach Walhalla, zu diesem Monument, das Ludwig I. errichten ließ als Ruhmeshalle für bedeutende Deutsche, aber das aussieht wie eine Antenne, wie ein Sendemast für Frequenzen, die nicht im elektromagnetischen Spektrum zu finden sind, sondern in Bereichen, die entstanden sind, als Computer begannen, mit der Geschichte zu kommunizieren, mit den Daten der Vergangenheit, mit den Algorithmen der Erinnerung, und Büttner steht vor dem dorischen Tempel und versteht mit einer Klarheit, die schmerzt wie direkter Augenkontakt mit der Wahrheit, dass er sich verlaufen hat, dass das System ihn hierher dirigiert hat mit einer Absicht, die er nicht durchschauen kann, aber die trotzdem funktioniert, weil Systeme heute das sind, was Computer sagen, dass sie sind, während die Donau tief unten im Tal liegt, ein Band aus Wasser und Licht, und gegenüber, auf der anderen Seite, liegt Barbing, so nah, dass er meint, Kampmann erkennen zu können, diese Gestalt, die wartet seit dreizehn Tagen, seit 392,8 Kilometern, seit ein Algorithmus beschlossen hat, dass Weltfrieden eine Aufgabe ist, die gelöst werden muss durch Bewegung, durch Transfer, durch die Übertragung von Masse über Distanz durch Zeit, und Büttner macht einen Schritt nach vorn, verliert das Gleichgewicht – sein Körper, optimiert für horizontale Bewegung, nicht für vertikale Orientierung – und purzelt den Hügel hinunter, durch Gras und Steine und Zeit, 127 Meter nach unten, bis er aufschlägt auf der Wasseroberfläche der Donau mit einem Geräusch, das klingt wie das Ende einer Datenübertragung, wie das Schließen einer Verbindung zwischen Systemen, die sich berührt haben, ohne sich zu verstehen.