Hotel Europa Teil 2

«Kampmann, Karsch geben Sie auf. Noch nie hat es jemand aus der Raum-ZeitVerzerrungs-Falle wieder hinausgeschafft. Wenn Sie sich jetzt ergeben, bekommen sie einen fairen Prozess und müssen nicht wie die Milben verenden.» Die Stimme von Fichter hallte durch die Schlucht der Steinchen, die wohl ein Hotelgast mit auf den Gang getragen hatte. Inzwischen hatten sie die Ausmaße eines Canyons und schoben sich bedrohlich näher, während sie stöhnend, knirschend und krachend weiter in alle Richtungen wuchsen. Kampmann und Karsch rannten keuchend weiter. Wenn Karsch die Arme ausstreckte, konnte er an beiden Seiten die Felswand fühlen. «Niemals ergeben wir uns», Kampmann versuchte, nicht so jämmerlich zu klingen, wie er sich fühlte. Diese Genugtuung würde er ihr nicht bieten. Er hatte Fichter erst gestern zwischen Zervelatwurst, Pumpernickel und Filterkaffee beim Frühstück kennengelernt. Er tippte darauf, dass sie Agentin der FADS war. Warum sie nun hinter ihm und Karsch her war, erschloss sich ihm nicht. Das war im Moment aber auch eher zweitrangig. Die allgemeine Situation ließ ihre gezückte Pistole fast schon lächerlich erscheinen. Die sich immer näher zusammenschiebenden Felswände machten markerschütternde Geräusche, die ihn sicher noch lang in seinen Träumen heimsuchen würde.

«Das hat doch keinen Sinn, das wissen Sie auch!» Fichters Stimme schien von überall zu kommen. «Ich kann das hier und jetzt beenden. Aber nur, wenn Sie sich ergeben und keinen Ärger machen.» «Niemals!»

«„Kampmann, das Ende!», schrie Karsch. Der so Angesprochene wollte schon etwas angemessen Zynisches erwidern, als er es auch sah: Die Schlucht war zu Ende. «Der Staub!» Niemand außer Karsch hätte ihn in dieser Sekunde verstanden, da war er sicher, aber diese spezielle Verbindung zwischen ihm und seinem Chef funktionierte wie üblich tadellos. Noch halb im Laufen, drehten sie sich um und begannen, faustgroße Staubkörner aufzuheben und sie in die sich schließende Schlucht zu werfen. In diesem Moment kam Fichter in Sicht. Kampmann holte Luft und zielte auf Fichters Beine. Daneben. Karsch feuerte und traf. Fichter stolperte, konnte sich aber noch auf den Beinen halten. Kampmann zielte erneut, Fichter stürzte fluchend. Ihre grobe lederne Umhängetasche flog durch die Luft. Die nächsten Sekunden nahm Kampmann wie im Zeitraffer wahr. Karsch hechtete nach vorn, um die Tasche zu fangen, von der er hoffte, dass sie die rettende RZV-Falle enthielt. Fichter hatte sich schon wieder halb aufgerappelt, als sich mit einem dumpfen Rumpeln der Canyon schloss, durch den sie sich eben noch hindurchgequetscht hatten.

«Ja…» Der Satz, den Kampmann angefangen hatte, ging im Donnern der aneinander reibenden Steinwände unter. Aber vielleicht gab es auch gar nicht so viel zu sagen. Karsch riss hektisch die Tasche auf und wühlte nach dem RZV. «Das muss er sein!» Triumphierend riss er einen kleinen blinkenden Kasten heraus. «Kennst du dich damit aus? Kampmann schüttelte den Kopf. Von RZVs hatte er bisher nur gehört und die haarsträubenden Geschichten im Stillen immer als Seemannsgarn abgetan.

«Es wird wohl der blinkende Knopf sein. Es ist immer der blinkende Knopf!» Karsch drückte entschieden auf den Knopf.

Pffffffffffffffffffft.

Eine dichte Wolke kam aus dem grauen Plastikkästchen, dann passierte erst einmal nichts.

Karsch und Kampmann sahen der Wolke nach, die sich langsam auflöste. «Hier, eine Anleitung!» Karsch hatte erneut in der Tasche gewühlt und drückte Kampmann ein mehrseitiges Traktat in die Hand, als plötzlich eine monströs riesige Milbe auf sie zugerannt kam. «Unter sie!» Karsch zog Kampmann mit sich. Die riesigen krebsartigen Beine bohrten sich neben den beiden in den Boden. Kampmann riss sich an den behaarten Beinen den Ärmel auf. Blut tropfte auf die Anleitung, und er kam ins Straucheln. Karsch zog ihn wieder nach oben, aber gleich darauf wäre er beinahe wieder über die nächste braune Teppichfaser gestolpert.

Karsch packte ihn an den Schultern und schob ihn nach vorn. «90 Grad rechts.» Kampmann stolperte vorwärts. «45 Links, 60 rechts, U-Turn.» Kurzer Flashback an seine mittelmäßig erfolgreichen Versuche damals in der Tanzschule, Augen und Füße zu koordinieren. Er fixierte das Papier. Gedrucktes, serifenloses Sütterlin. Die offizielle Staats-Schrift der FADS. Karsch riss ihn an der Schulter herum, als ein Milbenfuß sich nur wenige Zentimeter neben ihnen in den Boden bohrte. Paris-Dakar nur zu Fuß und im Hotelflur in Zwickau. «60 Links, 45 rechts, weiter geradeaus.» Kampmann versuchte, die Zeichen und das kleine Kästchen in Einklang zu bringen. Wer bitte nutzte schon serifenloses Sütterlin?

«Spring. Weit!» Karsch riss Kampmann mit sich nach vorn, als die nächste Milbe auftauchte. Der plötzliche Ruck sorgte dafür, dass die Anleitung in hohem Bogen durch die Luft flog und er einen Hechtsprung hinlegen musste, damit sie nicht im nächsten Moment vom nahenden Milbenfuß aufgespießt worden wäre.

Karsch zog ihn hinter einen großen Brocken aus irgendetwas, von dem Kampmann gar nicht wissen wollte, was das war. «Hast du es?» Kampmann nickte und drückte beherzt eine Tastenkombination. Alles schien zu vibrieren, der Boden, das Sichtfeld, die wogenden Teppichfasern. Kampmann musste die Augen schließen, so überwältigt war das Rütteln und Rauschen. Dann war es still.

«Famos», dachte Kampmann sarkastisch, als er mit Karsch wieder im dunklen Flur des Hotels Europa in Zwickau an der Straße der Nationen stand.