Verstreute Momente des Glücks

Die drei Freund kamen am Grand Canyon an. Sie parkten den Wagen. Dann schauten sie über die Abbruchkante. «Da müssen wir morgen runter», meinte Bohl. Gemurmel. Büttner und Reuss stimmten zu.

Die Amerikaner lachten und merkten an, dass sie gerne Kriege anzetteln, aber niemals die Beleuchtung dimmen würden wie die crazy Germans, diese Krautfresser.

Zuvor versuchten sie den Sonnenuntergang am Grand Canyon mit der Camera Obscura einzufangen. Schreiend liefen sie von einem Fleck zum anderen, um den richtigen Standort für das richtige Bild zur richtigen Zeit zu finden. «Hier» … «nein, da» … «und hier?» … «Aber nein» … «dann da» … «nein! Hier!» Die Sonne ging unter. Kein Film war belichtet. Liebespaare waren von den drei Schreihälsen genervt. Betrübt fuhren sie zum Campground und fielen in tiefen, rastlosen Schlaf. Das 48-Pack Miller Bier hatten sie auch nicht gefunden.

Anderntags. Die Sonne schien. Schon in der Früh waren sie am South Rim, um den Bright Angel Trail zum Indian Garden und weiter zum Colorado River zu erwandern. Jeder hatte sich mit einer Mütze, einer Flasche Wasser und jeweils einer Banane gerüstet. Los ging es. Gut gelaunt trabten die drei stetig bergab. Einzig ein hochgewachsener Ranger überholte sie und mahnte, dass das heute ein heißer Tag werden und eine Rettung durch die Ranger sie teuer zu stehen kommen würde. Pflichtbewusst machten die drei an jeder Wasserstelle rast. Kühlten ihre Köpfe, nässten die Mützen und füllten die Wasserflaschen. Die Bananen waren schon nach kurzer Zeit vertilgt Das Wandergepäck wurde leichter. In Indian Garden angekommen, machte Büttner schlapp. Jaulte über seine Sprungelenksentzündung im rechten Fuß. So wie er es schon in den Narrows gemacht hatte. Absicht? Bohl und Reuss liefen die letzten Kilometer zum Plateau Point ohne Büttner. Zum Colorado River liefen sie dann nicht mehr.

Wie Büttner so dasaß, sah er Kummer ein Liedchen pfeifend auf sich zukommen. Als Kummer ihn passierte, hörte er deutlich, wie dieser zur Melodie von „God save the Queen“ die Worte Die Königin ist Tod, es lebe der König, der alte Faschist sang. Büttner schüttelte den Kopf. Wusste Kummer, dass die Queen viele Jahre später, also am 9. September 2022, sterben würde? Kummer wusste so viel, schrieb so viel, prägte mit Tempo, dem schwachsinnigen Zeitgeist-Magazin, eine ganze Journalisten-Borderline-Generation. Wusste Kummer wirklich, dass die Queen sterben und ihr degenerierter Sohn König werden würde? Wie konnte das sein?

Mit lautem Hallo schreckten Bohl und Reuss Büttner aus seinen Überlegungen auf. Sie berichteten kurz, wie schön es gewesen war. Dann drängten sie zum Rückmarsch. Büttner wollte noch sagen, dass er eben Kummer getroffen habe und dass dieser wüsste, dass die Königin tot sein würde, doch die Freunde waren schon enteilt.

Der Aufstieg war eine Qual. Die drei Freunde waren am Ende ihrer Kräfte, der Proviant schon seit Stunden verzehrt. Mit schweren Beinen schleppten sie sich aufwärts. Reuss wollte zurückbleiben, aber Bohl schaffte, es ihn bis nach oben zu quasseln. Trotz aller Qualen hielt Büttner Ausschau nach einem PILZ-Anschluss, um Kampmann zu fragen, ob das mit Kummer wirklich wirklich sein konnte. Es gab aber keinen PILZ-Anschluss auf dem Bright Angel Trail. Zudem war Kampmann mit der Korrektur von Coaching II beschäftigt und hatte seinen PILZ-Anschluss auf Stumm geschaltet.

Am Auto angekommen, stürzten sich die Freunde auf die Lebensmittel, die sie im Kofferraum verstaut hatten. Diese waren von der Sonne erhitzt, übelschmeckend und wenig nahrhaft. Wie bekloppt stopften sie sich wahllos gammligen Käse, labbriges Toastbrot und ranzige Wurstscheiben in den Schlund. Die fauligen Reste in ihren Mündern spülten sie mit Wasser hinunter, stießen auf, schüttelten sich und erdachten augenblicklich neue Abenteuer.

Gestärkt nahmen sie die Camera Obscura, um wenigsten an diesem denkwürdigen Tag ein Bild vom Sonnenuntergang am Grand Canyon zu tätigen.

Romantischer, so befanden FfK, kann es nicht sein. Alles andere wäre Instagramkitsch.

Jeder Sonnenuntergang ist ein würdevoller Tod, sinnierte Büttner, setzte sich, an seinen Klappschreibtisch mit PILZ-Telefon und tippte in den WASTE-Emulator das Script seines nächsten Vortrags: Adels Tod – Über die Abschaffung des Adels. Dass er Kampmann jetzt nicht kabelte, lag an seiner Konzentration auf das Wesentliche und die unendliche Erschöpfung durch die Aktivitäten des Tages und die seltsame Begegnung mit Kummer.

Soundtrack: The Beatles, Don’t let me down, Hey Jude, Apple Records, 1969

Nachtrag: Auch dieser Vortrag von Büttner, gehalten an der Zentraluniversität von Venezuela vor tausenden begeisterten Studentinnen und Studenten, wurde nachträglich von der Radical Dude Society in der GROB Taschenbuchreihe veröffentlich und gilt bis heute als verschollen. Was jedoch als gesichertes Wissen gilt, ist, dass der Student Hugo Chávez ein begeisterter Zuhörer an jenem historischen Tag war und daraufhin begann, seine Version eines modernen Sozialismus in Angriff zu nehmen. Der Dagobert Duck der linken deutschen Szene (Azzelini), suchte bei Büttner rat über die Person Chávez und machte sich fortan als Experte des Chavismo einen Namen.

Buchtitel, verschollen, wie so vieles.