Stilfs

Fragment I: Ankunft

Büttner würde am frühen Nachmittag des 23. Juni in Stilfs eintreffen, das schwarze Moleskine-Notizbuch bereits in der linken Innentasche seiner Jacke aus gewaschenem Leinen, Marke COS, Farbe Sand, gekauft in der Maximilianstraße in München für zweihundertneunzig Euro, wobei er die Rechnung noch immer in seinem Portemonnaie aus italienischem Leder trüge, ein Geschenk seiner Schwester zu Weihnachten, Marke Il Bisonte, Farbe Cognac, geprägt mit seinen Initialen S.B. in goldenen Lettern.

Das Dorf läge auf 1310 Metern Höhe, was er seinem Höhenmesser entnähme, einem digitalen Gerät der Marke Suunto, Modell Core, das er vor drei Jahren in einem Sportgeschäft in Hamburg erworben hätte für vierhundertfünfzig Euro, wobei er sich noch genau an die Verkäuferin erinnern würde, eine blonde Frau um die dreißig mit einer Stimme, die ihm zu hoch erschienen wäre für ihre Statur.

Die Pension „Alpenrose“ würde sich als ein Gebäude aus den siebziger Jahren erweisen, verkleidet mit hellen Holzschindeln, möglicherweise Lärche, an der Fassade würden Geranien in grünen Plastikblumenkästen hängen, die Fenster wären gerahmt von weißen Kunststoffprofilen, Marke möglicherweise Rehau oder Schüco, schwer zu bestimmen aus der Entfernung, die Haustür aus Fichtenholz, behandelt mit einer Lasur in der Farbe Nussbaum, würde eine Messingklinke tragen, die bei Berührung leicht nachgeben würde unter dem Druck seiner Hand.

Notiz Nr. 1: Die Materialien sprechen ihre eigene Sprache der Sehnsüchte.

Fragment II: Das Zimmer

Man hätte ihm Zimmer Nummer 7 zugewiesen, gelegen im ersten Stock, erreichbar über eine Treppe aus Kiefernholz, deren Stufen mit einem Läufer aus Polypropylen in den Farben Rot und Grün belegt wären, ein geometrisches Muster, das an traditionelle Tiroler Ornamente erinnern sollte, wobei die Kunststofffasern bei jedem Schritt ein leises Knistern erzeugten, ein Geräusch, das sich in sein Gedächtnis einprägen würde wie das Rascheln von Zeitungspapier.

Das Zimmer würde augestattet sein mit einem Bett, dessen Rahmen aus hellem Holz gefertigt wäre, möglicherweise IKEA, Modell Hemnes, erkennbar an den charakteristischen Beschlägen aus verzinktem Stahl, die Matratze würde von mittlerer Härte sein, bezogen mit Bettwäsche aus Baumwolle, Farbe Weiß mit schmalen blauen Streifen, die Kissenbezüge zeigten leichte Gebrauchsspuren an den Rändern, winzige Fäden, die sich gelöst hätten durch wiederholtes Waschen in Industriemaschinen.

Der Schreibtisch wäre platziert vor dem Fenster, ein einfaches Möbelstück aus furnierter Spanplatte, Dekor Buche, die Oberfläche würde kleine Kratzer aufweisen, hinterlassen von den Schreibgeräten früherer Gäste, die Tischlampe daneben trüge einen Schirm aus beigefarbenem Textil, der Schalter wäre aus braunem Kunststoff, beim Betätigen würde er ein trockenes Klicken erzeugen, wie das Geräusch, das entsteht, wenn man eine Walnuss zwischen den Fingern zerdrückt.

Notiz Nr. 2: Jeder Kratzer im Furnier erzählt von fremden Träumen, die hier niedergeschrieben wurden.

Fragment III: Der Blick aus dem Fenster

Büttner würde seinen Stuhl so positionieren, dass er beim Schreiben hinausblicken könnte auf die gegenüberliegende Bergflanke, wo sich die Serpentinen der Stilfser Joch-Straße hinaufwinden würden wie ein grauer Reißverschluss, gezogen durch die grüne Landschaft aus Almwiesen und Lärchenwäldern, unterbrochen von Felsbrocken aus Gneis und Glimmerschiefer, deren Oberflächen im Nachmittagslicht schimmern würden wie polierter Granit.

Die Autos, die diese Straße befahren würden, wären aus dieser Entfernung nicht mehr als farbige Punkte: ein roter BMW, möglicherweise Modell X3, ein silberner Mercedes, vermutlich C-Klasse, Baujahr schwer bestimmbar, ein weißer Kleinwagen, eventuell ein Fiat 500 oder ein VW Polo, ihre Geschwindigkeit wäre reduziert auf das Tempo von Spielzeugautos, die ein Kind über einen Teppich schiebt, wobei sich das Motorengeräusch verlieren würde in der Weite des Tals.

Besondere Aufmerksamkeit würde der rote BMW erhalten, da er an der Aussichtsplattform beim Gamsspitzel halten würde, jener markanten Felsformation, die wie eine versteinerte Hand aus der südlichen Bergflanke ragen würde, und Büttner würde notieren: 15:47 Uhr Ankunft, zwei Personen ausgestiegen, 16:15 Uhr noch immer dort, ungewöhnlich lange Verweildauer für eine gewöhnliche Rast, wobei er durch sein Fernglas, ein Zeiss Terra ED 8×42, das er vor zwei Jahren in einem Fachgeschäft in Berlin erworben hätte, Details erkennen würde, die mit bloßem Auge verborgen geblieben wären.

Neben seinem Notizbuch läge aufgeschlagen ein Taschenbuch von Julio Cortázar, „Teufelsgreifer“, deutsche Übersetzung, Suhrkamp Verlag, das er am Vorabend zu lesen begonnen hätte und dessen unheimliche Logik der scheinbar zufälligen Begegnungen sich nun mit seinen eigenen Beobachtungen zu überlagern schienen würde, als würde die Fiktion die Realität kommentieren oder umgekehrt, eine Verschränkung, die Lichtenberg fasziniert hätte.

Er würde sein Notizbuch aufschlagen und mit einem Kugelschreiber, Marke Pilot, Modell G-2, Strichstärke 0,7 mm, Farbe Schwarz, den er seit vier Jahren benutzen würde und der niemals versagt hätte, seine erste Beobachtung niederschreiben: Die Entfernung verwandelt komplexe Maschinen in einfache geometrische Formen, sie reduziert den Lärm der Zivilisation auf eine friedliche Stille, in der nur noch der Wind hörbar bleibt, der durch die halboffenen Fensterläden streichen würde, während gleichzeitig die Präzision optischer Instrumente diese Distanz wieder aufheben könne.

Notiz Nr. 3: Distanz ist ein Filter, der das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt.

Fragment IV: Nachmittägliche Systematik

Um 16:30 Uhr würde Büttner sich an den Schreibtisch setzen, nachdem er seine Sachen ausgepackt hätte: drei Hemden aus Baumwolle, eines in Weiß, zwei in Hellblau, alle von derselben Marke, Seidensticker, gekauft in einem Kaufhaus in Frankfurt, dessen Name er vergessen hätte, aber dessen Lage er noch genau beschreiben könnte, eine Hose aus Leinen in der Farbe Beige, eine Jeans von Levi’s, Modell 501, Waschung Stone Washed, getragen seit fünf Jahren, die Nähte an den Taschen würden erste Anzeichen von Verschleiß zeigen.

Seine Toilettenartikel hätte er in einem Kulturbeutel aus schwarzem Nylon verstaut, Marke Samsonite, in dem sich befinden würden: eine Zahnbürste mit mittelharten Borsten, Marke Oral-B, eine Tube Zahnpasta, Marke Elmex, Inhalt 75 ml, zu etwa zwei Dritteln verbraucht, ein Deoroller, Marke Nivea for Men, Duft Fresh, ein Fläschchen Aftershave von Acqua di Parma, 50 ml, ein Geschenk zum vierzigsten Geburtstag, das er sparsam dosieren würde, da eine neue Flasche hundertfünfzig Euro kosten würde.

Systematisch, wie Lichtenberg es gelehrt hätte, würde er seine Beobachtungen kategorisieren: akustische Wahrnehmungen in der linken Spalte, visuelle in der rechten, dazwischen eine schmale Kolumne für Reflexionen, die sich aus der Verbindung beider ergeben würden, wobei er feststellen würde, dass die meisten Geräusche hier oben von der Bewegung der Luft stammten, vom Wind in den Bäumen, vom fernen Rauschen des Verkehrs, das sich anhören würde wie das Meeresrauschen in einer Muschel.

Notiz Nr. 4: Systematik ist der Schlüssel zur Erkenntnis, auch in der größten Einfachheit.

Fragment V: Abendliche Inventur

Gegen 19 Uhr würde das Licht beginnen, seine Qualität zu verändern, es würde weicher werden, goldener, die Schatten würden länger, und Büttner würde bemerken, wie sich die Farben der Landschaft verschöben von den harten Grüntönen des Nachmittags zu den wärmeren Tönen des Abends, ein Prozess, den er in seinem Notizbuch festhalten würde mit der Genauigkeit eines Malers, der eine Farbskala erstellt.

Das Abendessen würde serviert werden in einem Speisesaal, dessen Wände mit Holzpaneelen verkleidet wären, darüber eine Tapete mit einem Muster aus stilisierten Blumen in den Farben Rosa und Grün auf cremefarbenem Grund, die Tische wären gedeckt mit Tischtüchern aus weißem Damast, etwas abgenutzt an den Kanten, die Servietten aus demselben Material, gefaltet zu kleinen Pyramiden, neben jedem Gedeck würde ein Glas aus klarem Glas stehen, möglicherweise Duralex, und Besteck aus Edelstahl, dessen Griffe ein einfaches geometrisches Muster zeigen würden.

Die anderen Gäste wären zu identifizieren anhand ihrer Kleidung und ihrer Accessoires: ein älteres Ehepaar aus Amerika, erkennbar an ihren Wanderschuhen der Marke Merrell und ihren Funktionsjacken von Patagonia, ein junges Paar aus Italien, sie trägt eine Handtasche von Prada, er eine Uhr von TAG Heuer, ein einzelner Mann mittleren Alters, möglicherweise Österreicher, mit einer Kamera um den Hals, Marke Canon, Modell EOS, die er wie einen Talisman behandeln würde.

Notiz Nr. 5: Menschen offenbaren sich durch ihre Gegenstände vollständiger als durch ihre Worte.

Fragment VI: Nächtliche Reflexion

Um 22:15 Uhr würde Büttner sein Notizbuch noch einmal aufschlagen und die Beobachtungen des Tages durchgehen, wobei er feststellen würde, dass sich zwischen den einzelnen Fragmenten Verbindungen ergäben, Muster, die er am Morgen noch nicht hätte erkennen können, ein Netz aus Bedeutungen, das sich über die scheinbar zusammenhanglosen Details gelegt hätte wie ein unsichtbares Koordinatensystem.

Die Stille des Bergdorfs würde unterbrochen werden nur von gelegentlichen Geräuschen: dem Zuschlagen einer Autotür irgendwo in der Ferne, dem Bellen eines Hundes, dem Summen des Kühlschranks in seinem Zimmer, einem Gerät der Marke Liebherr, dessen Kompressor sich alle zwanzig Minuten einschalten würde mit einem leisen Vibrieren, das über den Boden übertragen würde auf die Möbel und von dort auf seine Füße, wenn er barfuß auf dem Linoleumboden stehen würde.

Er würde sich fragen, ob Lichtenberg in ähnlichen Momenten der Ruhe seine wichtigsten Erkenntnisse gewonnen hätte, in jenen Pausen zwischen den Beobachtungen, in denen das Gehirn die gesammelten Daten ordnen und neu verknüpfen könnte, wobei aus der scheinbaren Beliebigkeit der Wahrnehmungen plötzlich Strukturen entstehen würden, Gesetzmäßigkeiten, die nicht nur für diesen einen Ort gelten würden, sondern für die menschliche Existenz überhaupt.

Notiz Nr. 6: In der Stille organisiert sich das Chaos der Eindrücke zu erkennbaren Mustern.

Fragment VII: Der Morgen danach

Um 7:30 Uhr würde Büttner erwachen, ohne dass ein Wecker ihn geweckt hätte, sein innerer Rhythmus hätte sich bereits an die neue Umgebung angepasst, an das andere Licht, das andere Tempo, die andere Qualität der Geräusche, wobei er bemerken würde, dass sein Schlaf tiefer gewesen wäre als in der Stadt, wo ihn normalerweise das kontinuierliche Rauschen des Verkehrs begleiten würde.

Das Frühstück würde serviert werden in demselben Raum wie das Abendessen, aber die Morgensonne würde durch andere Fenster fallen und die Atmosphäre völlig verändern, die Holzpaneele würden in einem wärmeren Ton leuchten, die Tapete würde freundlicher wirken, und sogar die abgenutzten Tischtücher würden einen gemütlichen Charakter annehmen, als wären sie nicht Zeichen von Verschleiß, sondern von gelebter Geschichte.

Büttner würde sein Notizbuch neben seinen Teller legen, zwischen die Marmeladengläser der Marke Darbo und die Körbchen mit Semmeln aus der örtlichen Bäckerei, deren Kruste noch die charakteristischen Risse zeigen würde, die entstehen, wenn der Teig im Ofen aufgeht, und er würde eine neue Serie von Beobachtungen beginnen, diesmal konzentriert auf die Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt, auf die Art, wie derselbe Raum zu verschiedenen Tageszeiten verschiedene Persönlichkeiten annehmen kann.

Notiz Nr. 7: Zeit ist der unsichtbare Architekt, der jeden Raum kontinuierlich umgestaltet.

Fragment VIII: Systematische Schlussfolgerungen

Am Ende seines zweiten Tages in Stilfs würde Büttner eine vorläufige Bilanz ziehen, er würde die achtzehn Seiten seines Notizbuchs durchblättern, die er bis dahin gefüllt hätte mit Beobachtungen, Skizzen, Reflexionen, wobei seine Aufmerksamkeit zunächst auf die zeitlichen Abfolgen fallen würde, die er notiert hätte: 15:47 Uhr roter BMW X3 an der dritten Serpentine, 15:52 Uhr derselbe Wagen weiter oben, 16:15 Uhr Stopp an der Aussichtsplattform beim Gamsspitzel, jener markanten Felsformation, die aus der südlichen Bergflanke ragte wie eine steinerne Klaue.

Die systematische Durchsicht würde ihm offenbaren, dass er am ersten Tag, ohne es zu bemerken, eine Sequenz dokumentiert hätte, die bei isolierter Betrachtung der einzelnen Fragmente bedeutungslos erschienen wäre: Fragment 1-A: „Zwei Personen steigen aus rotem BMW, Mann in dunkler Jacke, Marke unbestimmbar aus dieser Entfernung, Frau in heller Kleidung, möglicherweise Jeans und weißes Oberteil“, Fragment 1-B: „Beide Personen bewegen sich zum Geländer der Aussichtsplattform“, Fragment 1-C: „Mann gestikuliert lebhaft, Frau wendet sich ab“, Fragment 1-D: „Plötzliche Bewegung, schwer erkennbar durch Distanz und Gegenlicht“, Fragment 1-E: „Nur noch eine Person am Geländer sichtbar“, Fragment 1-F: „Mann kehrt allein zum Fahrzeug zurück, Gangart verändert, langsamer, Haltung gebeugter“.

Dabei würde ihm die seltsame Parallele zu Cortázars „Teufelsgreifer“ bewusst werden, jener Geschichte, die er am Vorabend gelesen hätte und die von der unheimlichen Logik scheinbar zufälliger Beobachtungen handelte, von Blicken, die mehr sehen, als sie sehen wollten, und er würde feststellen, dass die Realität die Fiktion zu imitieren schiene oder umgekehrt, als hätte die Lektüre seine Wahrnehmung verändert, sie geschärft für Details, die normalerweise im Rauschen des Alltags verschwinden würden.

Büttner würde feststellen, dass seine Notizen zur Zeitspanne zwischen 16:18 und 16:23 Uhr eine Lücke aufwiesen, fünf Minuten, in denen er, wie er sich erinnern würde, seinen Kugelschreiber hätte fallen lassen und unter den Schreibtisch gerollt wäre, ein Pilot G-2 in der Farbe Schwarz, und während er ihn gesucht hätte, wäre seine Aufmerksamkeit von der Aussichtsplattform abgelenkt gewesen, eine Unterbrechung der Systematik, die er nun als verhängnisvoll empfinden würde.

Die Rekonstruktion der Ereignisse würde sich ergeben aus der Kombination seiner fragmentarischen Beobachtungen: Fragment 1-G: „16:24 Uhr, BMW verlässt Parkplatz, Geschwindigkeit deutlich erhöht gegenüber Ankunft“, Fragment 1-H: „Kein zweiter Wagen auf der Aussichtsplattform sichtbar“, Fragment 1-I: „Gamsspitzel wirft langen Schatten über den Abgrund, Tiefe schwer schätzbar, mindestens zweihundert Meter“, Fragment 1-J: „Bergrettungsfahrzeug, Marke Unimog, Farbe Orange, fährt gegen 18:30 Uhr dieselbe Serpentine hinauf“.

Die Methode Lichtenbergs würde sich als präziser erweisen, als Büttner es hätte erwarten können, die Systematik hätte es ihm ermöglicht, Zeuge zu werden, ohne Zeuge zu sein, Beobachter eines Geschehens, dessen Tragweite sich erst in der nachträglichen Analyse offenbaren würde, wobei die Distanz, die er als Vorteil für die objektive Betrachtung geschätzt hätte, nun zur Last werden würde, denn sie hätte ihn daran gehindert, rechtzeitig zu handeln.

Notiz Nr. 8: Systematische Beobachtung deckt Wahrheiten auf, die der flüchtige Blick übersieht – manchmal zu spät für Intervention.

Fragment IX: Konfrontation mit der Systematik

Um 23:42 Uhr würde Büttner das Notizbuch zuklappen, wobei das Geräusch des Einbands aus schwarzem Kunstleder auf dem Furnier des Schreibtischs hohler klingen würde als sonst, und er würde feststellen, dass seine Hand, die den Kugelschreiber hielt, eine leichte Vibration aufweisen würde, kaum wahrnehmbar, aber messbar, würde er sie auf die Tischoberfläche legen, ein unwillkürliches Zittern, das sich durch die Erkenntnis ergeben hätte, dass systematische Beobachtung nicht nur harmloses Erkenntnisinteresse befriedigen könne.

Seine Blickrichtung würde sich zwanghaft zur Aussichtsplattform wenden, die in der Dunkelheit nur noch als schwacher Umriss erkennbar wäre, beleuchtet von einem einzelnen Scheinwerfer, dessen Licht die Felsformation des Gamsspitzels in dramatische Schatten tauchen würde, und er würde sich fragen, ob seine methodische Herangehensweise an die Realität nicht eine Form der Komplizenschaft darstellte, ein distanziertes Beobachten, das Handlungsunfähigkeit zur Folge hätte, ganz so, wie Cortázar es in seinem „Teufelsgreifer“ beschrieben hätte: den Beobachter als unwillentlichen Komplizen des Beobachteten.

Der Griff zu seinem Mobiltelefon, einem iPhone 12 Pro in der Farbe Graphite, würde eine automatische Bewegung sein, aber die Nummer der örtlichen Polizei würde er nicht kennen, und die allgemeine Notrufnummer 112 zu wählen erschiene ihm als Überreaktion, da seine Beobachtungen möglicherweise eine Fehlinterpretation darstellen könnten, wobei er gleichzeitig erkennen würde, dass diese Rationalisierung selbst ein Produkt seiner wissenschaftlichen Methode wäre, die Zweifel säen würde, wo Gewissheit nötig wäre.

Das Dilemma würde sich in konkreten Handlungen manifestieren: er würde aufstehen, sich wieder setzen, das Fenster öffnen, es wieder schließen, seine Sachen in den Koffer packen, sie wieder auspacken, wobei jede Bewegung von der nächsten konterkariert würde durch die Ungewissheit, ob seine systematischen Beobachtungen eine Wahrheit offenbart hätten oder nur eine Kette von Zufällen.

Notiz Nr. 9: Die Klarheit der Methode führt zu einer Unklarheit der moralischen Verpflichtung.

Fragment X: Nächtliche Gewissheit

Um 2:17 Uhr würde Büttner das Notizbuch erneut öffnen und die Fragmente 1-A bis 1-J noch einmal durchgehen, diesmal nicht als wissenschaftlicher Beobachter, sondern als potenzieller Zeuge, wobei er feststellen würde, dass die präzise Dokumentation der Uhrzeiten, der Markenbezeichnungen, der Bewegungsabläufe eine Beweiskraft besitzen könnte, die über seine ursprüngliche Intention hinausweisen würde.

Die Entscheidung würde fallen, als er in seinem Kulturbeutel nach der Zahnbürste greifen würde und dabei das Aftershave von Acqua di Parma berühren würde, dessen Glasflakon in der Dunkelheit des Badezimmers kühl anfühlen würde unter seinen Fingerspitzen, ein Geschenk zum vierzigsten Geburtstag, und er würde sich daran erinnern, wer es ihm geschenkt hätte: seine Nichte, ein zwanzigjähriges Mädchen mit dunklen Haaren und einer Leidenschaft für Bergtouren.

Um 6:30 Uhr würde er an der Rezeption nach dem Weg zur örtlichen Polizeistation fragen, wobei die Frau mit den graumelierten Haaren und der Rodenstock-Brille ihn mit einem Ausdruck betrachten würde, der zwischen Neugier und Besorgnis wechseln würde, und sie würde ihm erklären, dass sich die nächste Station in Prad am Stilfser Joch befinden würde, zwölf Kilometer talabwärts, erreichbar mit dem Linienbus der Linie 273, Abfahrt um 8:15 Uhr.

Das Notizbuch würde er in einer Klarsichthülle aus Polyethylen verwahren, gekauft vor Jahren in einem Schreibwarengeschäft in Köln, und diese Hülle würde er in die Innentasche seiner Jacke stecken, neben sein Portemonnaie aus italienischem Leder, wobei das zusätzliche Gewicht kaum spürbar wäre, aber von symbolischer Schwere, als trüge er nicht nur Beobachtungen mit sich, sondern Verantwortung.

Notiz Nr. 10: Systematik verpflichtet zur Konsequenz.

Fragment XI: Die Nähe der Gewissheit

Um 7:45 Uhr würde Büttner die Pension verlassen, ausgerüstet mit seinem Rucksack der Marke Deuter, Modell Speed Lite 20, Farbe Anthrazit, gekauft vor drei Jahren in einem Outdoor-Geschäft in Hamburg für achtundneunzig Euro, in dem sich befinden würden: eine Wasserflasche aus Edelstahl, Marke Sigg, Inhalt 0,75 Liter, eine Energieriegel der Marke PowerBar, Geschmack Schokolade, das Fernglas Zeiss Terra ED 8×42, das Notizbuch in der Klarsichthülle aus Polyethylen, ein Maßband aus glasfaserverstärktem Kunststoff, zwei Meter Länge, das er normalerweise für technische Zeichnungen verwenden würde.

Der Weg zur Aussichtsplattform würde ihn zunächst die Dorfstraße entlangführen, vorbei an Häusern aus den sechziger und siebziger Jahren, deren Fassaden mit Holzschindeln verkleidet wären oder mit Putz in den Farben Weiß, Beige, manchmal ein helles Gelb, die Gehsteige aus Betonplatten, Format 50×50 Zentimeter, mit Fugen, in denen Gras wachsen würde, kleine Büschel von Löwenzahn und Wegerich, dann würde er auf einen Forstweg einbiegen, der sich in Serpentinen den Berg hinaufwinden würde.

Die Gehzeit würde er mit seiner Armbanduhr messen, einer Casio Pro Trek, die er seit sechs Jahren tragen würde ohne jemals die Batterie wechseln zu müssen, da sie sich durch Sonnenlicht aufladen würde, und er würde feststellen, dass er für die Strecke von der Pension bis zur Aussichtsplattform genau vierunddreißig Minuten benötigen würde, wobei er zweimal anhalten würde, um seine Beobachtungen aus der Ferne mit der realen Topografie abzugleichen.

Um 8:19 Uhr würde er die Aussichtsplattform erreichen, eine rechteckige Konstruktion aus Stahlbeton, umgeben von einem Geländer aus verzinktem Stahl, Höhe 1,10 Meter, das an mehreren Stellen Rostflecken aufweisen würde trotz der Verzinkung, und der Boden der Plattform würde aus Betonplatten bestehen, die mit einer rutschfesten Beschichtung versehen wären, grau mit schwarzen Einsprenkeln.

Notiz Nr. 11: Der Übergang von der Theorie zur Empirie verändert alle Parameter.

Fragment XII: Spurenlese nach Lichtenberg

Büttner würde systematisch vorgehen, wie es die Methode erfordern würde, zunächst eine Bestandsaufnahme der Plattform, dann eine Detailuntersuchung möglicher Spuren, wobei er feststellen würde, dass der Beton an der südwestlichen Ecke des Geländers dunkle Flecken aufweisen würde, möglicherweise von Feuchtigkeit, möglicherweise von anderen Substanzen, schwer zu bestimmen ohne chemische Analyse.

Das Maßband würde er verwenden, um die Dimensionen der Plattform zu erfassen: 4,20 Meter in der Länge, 2,80 Meter in der Breite, wobei er diese Werte in sein Notizbuch eintragen würde mit derselben Präzision, mit der er seine Beobachtungen aus der Ferne dokumentiert hätte, und er würde feststellen, dass methodische Herangehensweise auch in der direkten Konfrontation mit möglichen Beweismitteln von Vorteil wäre.

Am Geländer, an der Stelle, wo seine Beobachtungen die „plötzliche Bewegung“ lokalisiert hätten, würde er mit seinem Fernglas, nun umfunktioniert zu einer Lupe, kleine Fasern entdecken, die sich in einer Schweißnaht des Stahlgeländers verfangen hätten: blaue Fasern, möglicherweise von Denim, und weiße Fasern, wahrscheinlich von Baumwolle, was mit seiner Notiz über die Kleidung der Frau übereinstimmen würde: „möglicherweise Jeans und weißes Oberteil“.

Der Blick über das Geländer würde ihm offenbaren, was aus der Distanz seiner Pension nur zu erahnen gewesen wäre: ein Abgrund von etwa zweihundertfünfzig Metern Tiefe, geschätzt anhand der Geschwindigkeit fallender Steine, die er zur Probe hinunterwerfen würde und deren Aufprall er nach fünf Komma acht Sekunden hören würde, was nach der Formel für den freien Fall eine Höhe von etwa einhundertfünfundsechzig Metern ergeben würde, der Unterschied erklärbar durch die Luftreibung und die Ungenauigkeit seiner akustischen Messung.

Notiz Nr. 12: Physikalische Gesetze bestätigen sich auch im Kontext möglicher Verbrechen.

Fragment XIII: Die Materialität des Verdachts

Büttner würde ein Stofftaschentuch aus seinem Rucksack nehmen, bestickt mit seinen Initialen S.B. in dunkelblauen Fäden, hergestellt von einer kleinen Strickerei im Hunsrück, deren Adresse er nur noch ungefähr erinnern würde, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem dreißigsten Geburtstag, und damit vorsichtig die Fasern aus der Schweißnaht lösen, wobei er darauf achten würde, sie nicht zu beschädigen, dann würde er sie in einem kleinen Plastikbeutel verwahren, ursprünglich bestimmt für das Verpacken von Sandwiches, nun zweckentfremdet zu einem Beweisstückbehälter, und er würde sich fragen, ob Lichtenberg bei seinen physikalischen Experimenten ähnlich improvisiert hätte.

Die Untersuchung des Bodens würde weitere Details offenbaren: Schrammspuren im Beton, wie sie entstehen könnten, wenn schwere Gegenstände über die Oberfläche geschleift würden, und in einer Fuge zwischen zwei Betonplatten würde er etwas entdecken, das bei oberflächlicher Betrachtung wie ein kleiner Stein aussehen würde, bei näherer Untersuchung jedoch als ein Ohring identifizierbar wäre, goldfarben, möglicherweise vergoldet, mit einem kleinen Anhänger in Form einer Blume.

Der Ohring würde sich schwer anfühlen für seine Größe, was darauf hindeuten könnte, dass er nicht aus billigem Modeschmuck bestehen würde, und Büttner würde ihn fotografieren mit seinem Mobiltelefon, einem iPhone 12 Pro, bevor er ihn ebenfalls sicherstellen würde, wobei er bemerken würde, dass seine Hände leicht zittern würden, eine körperliche Reaktion auf die Bestätigung seiner theoretischen Befürchtungen.

Die Aussicht von der Plattform würde ihm seine eigene Position zeigen: das Fenster seines Zimmers in der Pension „Alpenrose“ wäre deutlich erkennbar, ein kleines Rechteck in der Fassade des Gebäudes, und er würde verstehen, dass er nicht nur Beobachter gewesen wäre, sondern möglicherweise selbst beobachtet worden wäre, ein Gedanke, der sich in diesem Moment konkretisieren würde durch das leise Klicken eines Kameraverschlusses hinter ihm.

Büttner würde sich umdrehen und einen Mann mittleren Alters erblicken, der etwa zehn Meter entfernt stehen würde, ausgerüstet mit einer Kamera, deren Modell er sofort identifizieren würde: eine Leica M10-R, Gehäuse in Schwarz, mit einem Objektiv, das bei näherer Betrachtung als ein Summilux 50mm f/1.4 erkennbar wäre, eine Kombination im Wert von etwa elftausend Euro, der Mann selbst würde bekleidet sein mit einer schmalen Hose aus schwarzem Cord, möglicherweise von einem italienischen Hersteller, darüber einen dünnen Rollkragenpullover aus Merinowolle, Farbe Anthrazit, und eine Jacke aus gewaschenem Canvas, möglicherweise Barbour, Farbe Olivgrün, seine Haare wären leicht gewellt und würden bis über die Ohren reichen, eine Länge, die an die Modefotografen der sechziger Jahre erinnern würde, und um seinen Hals würde ein schmaler Ledergurt verlaufen, an dem eine zweite Kamera befestigt wäre.

Der Fotograf würde seine Kamera nicht senken, als Büttner ihn ansprechen würde, sondern würde noch zwei weitere Aufnahmen machen, wobei das charakteristische Geräusch des Verschlusses der Leica, ein präzises mechanisches Klicken, in der Stille der Berglandschaft besonders deutlich hörbar wäre, und erst dann würde er das Gerät von seinem Auge nehmen und Büttner mit einem Ausdruck betrachten, der weder entschuldigend noch provozierend wirken würde, sondern neutral, sachlich, wie der eines Wissenschaftlers.

„Sie dokumentieren“, würde der Mann sagen, nachdem Büttner ihn zur Rede gestellt hätte, wobei seine Stimme einen leichten englischen Akzent aufweisen würde, „und ich dokumentiere Sie beim Dokumentieren. Das Problem dabei ist, dass beim Sehen mehr aufgenommen wird, als man aufnehmen möchte. Die Kamera sieht alles, auch das, was man gar nicht fotografieren wollte.“

Notiz Nr. 13: Die Umkehrung der Blickrichtung offenbart die eigene Exponierung – und deren weitere Beobachtung.

Fragment XIV: Doppelte Belichtung

Der Fotograf würde sein Gerät in den Händen wiegen, als wäre es ein Instrument zur Gewichtsmessung, und würde fortfahren: „Gestern war ich hier oben für Landschaftsaufnahmen. Als ich heute die Filme entwickelt habe, da ist mir aufgefallen, dass da noch andere Sachen drauf sind.“

Büttner würde bemerken, dass der Mann einen zweiten Kameragurt um die Schulter tragen würde, an dem eine weitere Kamera befestigt wäre: eine Nikon F2, ausgerüstet mit einem 80-200mm f/4 Objektiv, und in der Tasche seiner Jacke würde der Umriss weiterer Objektive erkennbar sein, kleine zylindrische Wölbungen, die auf eine umfangreiche Ausrüstung hindeuten würden.

„Hier“, würde der Fotograf sagen, während er die Leica M10-R in eine Tasche aus braunem Leder verstauen würde, und würde aus seiner Jackentasche einen Kontaktbogen hervorholen, Format 24×36 cm, auf Barytpapier entwickelt, wie Büttner an der charakteristischen Oberflächenstruktur erkennen würde. „Ich wollte eigentlich nur den Felsen da fotografieren, aber schauen Sie mal.“

Der Mann würde mit seinem Finger auf eine Stelle des Kontaktbogens deuten: „Bild Nummer 23, da in der Ecke. Ein roter Wagen, zwei Leute. Ich hab erst heute Morgen gemerkt, dass da was passiert ist. Da waren Sie vorhin auch, oder? Mit Ihrem Maßband.“

Notiz Nr. 14: Zufällige Dokumentation kann systematische Beobachtung ergänzen.

Fragment XV: Parallele Beweisführung

Büttner würde den Kontaktbogen betrachten und feststellen, dass die Qualität der analogen Aufnahmen trotz der großen Entfernung bemerkenswert scharf wäre, ein Verdienst des Zeiss-Objektivs und der feinkörnigen Emulsion des Films, vermutlich Kodak Tri-X 400, und tatsächlich würden in der rechten unteren Ecke der Bilder 21, 22 und 23 winzige Figuren erkennbar sein, so klein, dass sie ohne Vergrößerung kaum mehr als Punkte darstellten.

„Ich war gestern so zwischen vier und halb fünf hier“, würde der Fotograf erklären, während er mit einem Zeigefinger auf die Bilder deuten würde, „16:14, 16:18 und 16:23 Uhr ungefähr. Ich notier mir immer die Zeiten, einfach so.“

Der Mann würde eine Lupe aus seiner Tasche nehmen, eine Schneider-Kreuznach mit 8-facher Vergrößerung, und würde sie Büttner anbieten: „Schauen Sie sich das mal genauer an. Auf Bild 23 ist da was komisch. Ich weiß nicht genau was, aber es sieht nicht normal aus.“

Durch die Lupe betrachtet würden die winzigen Figuren an Schärfe gewinnen, und Büttner würde erkennen können, dass eine der Personen sich in einer unnatürlichen Position befinden würde, halb über das Geländer gebeugt, während die andere Person dahinter stehen würde, eine Konstellation, die bei isolierter Betrachtung harmlos erscheinen könnte, aber im Kontext der zeitlichen Abfolge eine andere Bedeutung erhalten würde.