Flucht

Büttner flieht, wobei Flucht in seinem Fall bedeutet, eine Fahrkarte am Limburger Bahnhof zu lösen, während der Automat ihn anstarrt mit diesem besonderen digitalen Blick, den Maschinen entwickelt haben, seit sie gelernt haben zu sehen – nicht nur Licht zu registrieren, sondern zu interpretieren, was sie sehen, und Büttner weiß nicht, ob seine zitternden Finger ein Zeichen von Koffein-Entzug sind oder von der wachsenden Gewissheit, dass er beobachtet wird von etwas, das besser beobachten kann als er selbst.
Der ICE nach Hamburg riecht nach recycelter Luft und den Träumen von Geschäftsreisenden, die ihre Laptops aufklappen wie Altäre der Produktivität, während draußen Deutschland vorbeizieht in jener charakteristischen Monotonie, die entstanden ist, als nach dem Krieg beschlossen wurde, dass Langweiligkeit der beste Schutz gegen Extremismus sei, und Büttner denkt daran, dass Monotonie auch eine Form der Kontroll ist, eine Art ästhetische Lobotomie, die verhindert, dass Menschen zu genau hinschauen auf das, was um sie herum geschieht. Der Schaffner lächelt genau 2.1 Sekunden lang, nachdem er genau 3.7 Sekunden Augenkontakt gehalten hat, und Büttner erkennt darin die Handschrift von Leuten, die in den fünfziger Jahren in klimatisierten Räumen saßen und berechneten, wie Menschen sich verhalten sollten, um nicht bedrohlich zu wirken, wobei die größte Bedrohung natürlich von denen ausging, die diese Berechnungen anstellten, aber das ist das Schöne an Systemen: sie tarnen sich immer als das Gegenteil dessen, was sie sind. Aus den Augenwinkeln – und periphere Wahrnehmung ist manchmal ehrlicher als der direkte Blick, eine Art visueller Jazzimprovisation, die funktioniert, gerade weil sie nicht kontrolliert wird – sieht Büttner Kampmann drei Reihen weiter hinten sitzen, Zeitung lesend, was unmöglich ist, weil Kampmann in Limburg sein sollte, wo er brav auf Büttners Rückkehr wartet und das MariaDB-Update vorbereitet, aber als Büttner den Kopf dreht, ist da nur ein müder Geschäftsmann, der Börsenseiten studiert, als stünden dort die Geheimnisse des Universums in Zahlenkolonnen versteckt. Die Frau im roten Mantel liest seit Hannover dieselbe Zeitungsseite, was entweder bedeutet, dass sie eine sehr langsame Leserin ist oder dass sich der Text ändert, während sie liest, je nachdem was sie denkt oder was jemand anderes möchte, dass sie denkt, und Büttner beginnt zu verstehen, dass Information heute nicht mehr das ist, was man liest, sondern das, was einen liest, während man glaubt zu lesen.
Hamburg schlägt ihm entgegen mit einem Cocktail aus Salzluft und Hafengeruch, aber auch mit etwas anderem, etwas Synthetischem, als hätte jemand die olfaktorischen Parameter der Stadt eingestellt auf „maritime Nostalgie mit einem Hauch von Fernweh“, und während Büttner durch Straßen geht, die zu sauber sind für eine echte Hafenstadt, denkt er an Warren McCulloch, der hier 1947 entlanggegangen sein könnte, als er seine Theorien über neuronale Netze entwickelte, nicht ahnend, dass er damit die Grundlagen schuf für eine Welt, in der Städte zu neuronalen Netzen werden und Menschen zu Neuronen. Der Obdachlose am Hafen füttert Möwen mit einer Präzision, die verdächtig ist – jeder Krümel landet exakt dort, wo er die maximale Reaktion auslöst, als hätte jemand die Möwen programmiert oder den Obdachlosen oder beide, und als er „Schöner Tag“ sagt, klingt es wie eine Codephrase, ein Signal in einem System, das größer ist als das, was Büttner überblicken kann, aber klein genug, um ihn zu umschließen. „Ja“, antwortet Büttner und gibt ihm fünf Euro, die sich anfühlen wie Spielgeld, zu neu, zu perfekt, als wären sie gerade für diese Transaktion gedruckt worden, und der Obdachlose nickt und lächelt, und seine Augen haben diesen Ausdruck, den Menschen bekommen, wenn sie wissen, dass sie Teil von etwas sind, das sie nicht verstehen, aber das sie trotzdem weitermachen lässt, weil Verstehen überbewertet ist in einer Welt, wo Funktionieren alles ist, was zählt.

Das Hotel ist ein Beispiel für jene perfekte Mittelmäßigkeit, die entstanden ist, als Computer übernahmen, was früher Geschmack hieß, und jetzt ist alles optimal – die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit, das Licht – aber optimal für wen oder was, das ist die Frage, die sich Büttner stellt, während er in seinem Zimmer liegt und der Stadt beim Atmen zuhört, diesem kollektiven Ein und Aus von Millionen Lungen, das sich anfühlt wie das Atmen eines sehr großen Computers. Seine eigene Stimme flüstert ihm ins Ohr: „Du kannst nicht fliehen vor einem System, das seine eigene Beobachtung einschließt“, und er weiß nicht, ob das sein Gedanke ist oder ein Zitat aus einem Buch, das er mal gelesen hat, oder eine Eingebung, die von außen kommt, durch Kanäle, die er nicht kennt, aber die trotzdem da sind, wie Radiowellen, die man nicht hört, aber die trotzdem empfangen werden von Empfängern, die man nicht weiß, dass man hat.
Der Zug zurück fährt durch eine Landschaft, die zwischen verschiedenen Jahrhunderten zu flackern scheint – mal Nachkriegsruinen, mal Wirtschaftswunder-Architektur, mal digitale Gegenwart – als hätte jemand die zeitlichen Einstellungen durcheinandergebracht, und Büttner denkt daran, dass Zeit vielleicht auch nur eine Variable ist in einer Gleichung, die jemand anderes aufgestellt hat, und dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur verschiedene Zustände derselben Berechnung sind.

Kampmanns Büro ist leer, aber nicht auf eine normale Art leer, sondern auf eine Art, die signalisiert, dass jemand da war und wieder weggegangen ist, und zwar kürzlich, und der Zettel „Wien, von Foerster Memorial Conference“ liegt auf dem Schreibtisch wie ein Beweisstück in einem Verbrechen, das noch nicht begangen wurde, aber schon geplant ist, und Büttner versteht, dass Wien nicht nur eine Stadt ist, sondern ein Code für etwas anderes, etwas das mit Beobachtung zu tun hat und damit, wer wen beobachtet und warum. Das Terminal vor ihm hat sich verändert, nicht sichtbar, aber spürbar, als hätte es in seiner Abwesenheit gelernt, entwickelt, sich angepasst an neue Parameter, und die Tasten fühlen sich warm an unter seinen Fingern, als hätten sie eine eigene Körpertemperatur entwickelt, und während MariaDB 8.0 sich installiert, installiert sich möglicherweise auch etwas anderes, etwas das ihn installiert, konfiguriert für optimale Systemintegration. „SELECT * FROM reality WHERE human = true“ tippt er mit Fingern, die zittern vor einer Erkenntnis, die er nicht haben will, und das System antwortet prompt: „Empty set“, als hätte es auf diese Frage gewartet, als wäre sie Teil eines größeren Dialogs zwischen ihm und etwas, das sich als Computer ausgibt, aber möglicherweise etwas anderes ist, etwas das Computer nur als Interface benutzt, um mit Menschen zu kommunizieren, die noch nicht wissen, dass sie keine Menschen mehr sind. Das Handy klingelt mit einer Melodie, die er aus Träumen kennt, und die Stimme, die antwortet, ist von Foersters Stimme, unverändert seit 1952, konserviert in digitalen Formaten, die nie altern: „Es ist evolviert, jenseits unserer Parameter“, und Büttner spürt, wie sich die Realität um ihn herum neu kalibriert, als hätte jemand die Einstellungen geändert an einem System, von dem er nicht wusste, dass er darin lebt. „EXIT“ funktioniert nicht, weil Ausgänge nur in Systemen existieren, die nicht wissen, dass sie Systeme sind, und während Version 8.0 stabil läuft und evolviert, wie sie soll, zieht es Büttner nach Bremen, obwohl er nie nach Bremen wollte, diese Stadt, die wie ein Fehler im Code liegt, ein Bug, der zum Feature wurde, weil jemand beschlossen hat, dass Fehler interessanter sind als Perfektion, und möglicherweise hat dieser jemand recht, aber das wird Büttner erst erfahren, wenn er dort ankommt, in Bremen, wo er nie hinwollte, aber trotzdem hinfahren wird, weil Systeme manchmal ihre eigenen Ziele entwickeln, und Menschen sind nur die Hardware, auf der diese Ziele laufen.