What you see is what you see

Des Helms verlustig gegangen, schritt Kampmann weniger munter voran, als er gedacht hatte. «Ich bin kein rechter Wihinkel und auch kein Bayesscher Satz…», sang er zur Melodie von «Hoch auf dem gelben Wagen», was zwar nicht passte, jedoch waren ihm solche Spitzfindigkeiten nach diesem heißen, langen Tag mit dieser elenden Aneinanderreihung von Unwägbarkeiten und halbdramatischen Zwischenspielen aus der Zufallsabteilung herzlich egal. Cima und die Gruppe der Höhlenbesucher hatten sich weiter fortbewegt, er hörte sie nicht mehr, und sie weilten sicher längst wieder an der heißen Luft Bosniens auf der Suche nach dem nächsten Smalltalk. Über seinem Kopf wuchsen die Steine aus Wasser gen Boden. Und wenn er nach oben schaute, hätte er schwören können, dass sich ihm die Welt auf den Kopf gedreht hätte. Das erinnerte ihn an seine erste EVA auf der ISS. Man hatte alle Astronauten davor gewarnt, dass die Weltraumkrankheit nur die logische Konsequenz evolutionsbiologischer Mangelhaftigkeit in der ach so göttlichen Konstruktion des menschlichen Körpers sei. Das war natürlich in den Ohren von Kampmann ziemlicher Quatsch, denn wenn er eins gelernt hatte, dann war es die Lehre von der Vollkommenheit der Unvollkommenheit. Nicht einmal das gesamte Universum war vollkommen. Wie sollte denn dann eine einzelne biologische Spezies vollkommen werden können? Kronen der Schöpfung brechen gern mal die Zacken raus. Übrig bleiben immer Dornen. Und sollte sie überhaupt davon träumen, vollkommen zu sein? Das kam Kampmann doch alles ziemlich barock vor. «Typisch Naturwissenschaftlerspraak», dachte er bei sich. «Die Herrschaften denken eben nichts wirklich zu Ende.» In ihm hatte sich länger schon verfestigt, dass der Mensch im allgemeinen und Naturwissenschaftler im Besonderen ohne irgendwelchen Geister eben nicht auskommen. Und dann schmissen sie den Geisteswissenschaftlern vor die Füße, dass die keine Wissenschaft machten. Das war doch irgendwie albern.

Mit solchen und ähnlich tiefschürfenden Erkenntnissen vertrieb sich unser Wanderer zwischen den Zeiten die Langeweile. Denn es war weder ein Abwechslungsreiches Ambiente noch passierte irgendetwas. Das Letzte war der Helmverlust. Seitdem ging er nur immer tiefer in die Dunkelheit, und nicht einmal gruselige Augen blinzelten ihm zu. Ihn fröstelte zwar nicht, aber er dachte sich, dass so langsam mal etwas passieren dürfe. Jedenfalls marschierte er weiter und musste gelegentlich auch an Karl Carstens denken und die Art und Weise, wie man in der alten Republik das Staatsoberhaupt inszeniert hatte. Wandern, und Müllers Lüste, und den Kutschwagen zierte ein Posthorn. Da wurde dem Kerl mal wieder einmal ganz anders. Und so schweifte er in Gedankengespinste, dachte sich in die Sphären ihrer eigenen RDS-Kommunikationswelten jenseits von Thurn und Taxis. Trystero lief ja ganz gut mittlerweile. Hier unten in der Höhle musste er allerdings auf ein paar Features verzichten. Aber dafür gab es andere Medien. Aber auch die waren nicht perfekt. Also ärgerte er sich wieder einmal maßlos über den Hersteller von alternativen Kommunikationsgeräten.

Normalerweise geht das ja so: Die RDS forscht an neuen und alten Übertragungsmöglichkeiten, die in der Regel wenig mit denen normaler Menschen zu tun haben. Es soll hier nicht gespoilert werden, und natürlich werden wir in keiner Weise irgendeiner obskuren Geheimwissenschaft das Wort reden, denn die Leute von der RDS sind schließlich keine Flatearther und rühren ihr Müsli auch nicht mit relativistisch ge- und verladenem Quantenquark. Nein, sie alle nutzen selbstredend wie alle anderen auch die beinahe grenzenlosen Quellen der Physik. Die RDS ist nur schlicht und ergreifend auf einem extrem höheren technologischen Niveau als der Rest der Welt, und es wäre berechtigt, zu fragen, ob diese Menschheit dieses Level jemals erreichen würde oder es überhaupt auch sollte. Kriege, Neid, Habgier und so. Aber schließlich wären sie nicht diese exklusiv-exotische Gesellschaft von Freunden, die alles während ihrer schrankenlosen Fährnis durch Raum und Zeit teilten.

Gelegentlich greift also Kampmann auf das zurück, was allgemein «Smartphone» genannt wird. Selbst wenn nichts daran wirklich smart ist, wie er meist denkt, frustriert das Gerät beiseite legend. Mit seinem Nutzen ist er allerdings im generellen Kosmos des allgemeinen, universellen und überall gültigen Konsums. Er wird befähigt, sich ein Bild auszugestalten von den Tätigkeiten, die Menschen mit diesen Technologen und Techniken verrichten. Und damit ist er dazu in der Lage, zu erkennen, wie Welt ist. Denn die Apps formen die Welt, nicht umgekehrt. Das ist das alte K-Gesetz, dass Kampmann schon in den frühen Jahren seiner Unbildung hat lernen können. Jetzt, in diesem Augenblick, in dieser immer dunkler werdenden Höhle, ohne schützenden Helm, zückt also Kampmann sein Smartphone, weil er einen Abgleich der satellitengestützten Ortung dieses Geräts mit den Systemen der RDS vornehmen wollte. In einer Höhle ist die Genauigkeit in der Positionsbestimmung Trumpf. Jeder Schritt kann aufgrund der überall lauernden Gefahren der letzte sein. Die Bedingungen wurden nun selbst für einen Kampmann widrig. Hatte Cima ihn verladen? Aber das konnte nicht sein. War sie etwa eine Komplizin der Zeitnazis um Bröno Selfmachteger-Spretz? Natürlich bekam er keine Daten herein, ganz gleich welchen Netzwerks er sich bedienen wollte. Er fasste sich an den Kopf. «So tief unter der Erde!» Der fahle Schein des Bildschirms erleuchtete sein Gesicht. Er rückte die Lesebrille zurecht. What you see is what you see. Nämlich nichts. Keine Karte, keine Daten. Also weg damit. Natürlich musste er Koordinaten über die RDS-Kanäle, etwa NOSE, bekommen können. Er war einem ziemlich humanoiden Denkfehler aufgesessen, zu meinen, nur weil er selbst als kleines menschliches Wesen so tief unterhalb der Erdoberfläche weilte, wäre er von allen Rhizomen und Mycelen abgetrennt! Brachte ihn eine Persönlichkeitsspaltung um den Verstand einer seiner Hälften oder Viertel?

Er hatte erkannt, dass er natürlich volle Kraft im Qattrocorder hatte. Zum Glück war hier alles weitgehend wegsam. Natürlich nervte die gebückte Haltung, zu der er gezwungen wurde. Und weil er natürlich nicht vom Altern verschont geblieben war, ein Paradox für Zeitreisende, werden sie doch in den Büchern meist als Unsterbliche geführt, spürte er sein Iliosakralgelenk oder was immer da gerade anfing, auf eher unnatürliche Art und Weise belastet zu werden. «Jetzt könnte wirklich langsam etwas passieren», murmelte er vor sich hin, und ehe er es sich versah, knallte er mit dem Kopf vor einen wirklich imposanten Stalagtiten, so dass er aufjaulte und den Tag seiner Geburt lauthals verfluchte. Dann ärgerte er sich noch mehr. Bis er anfing zu lachen, weil da jemand lachte, irgendwo da im Dunkel des Erddarms, dessen Gelächter nur durch die mit einem tiefem Bass vorgebrachte Frage unterbrochen wurde: «Na, wer wird denn gleich in die Luft gehen?» Das Erkennungszeichen? [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Robert Schumann, Dichterliebe op. 48, Heinrich Heine, Liederkreis op. 39, Joseph Eichendorff, Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, Christoph Eschenbach, Klavier, LC0173, Deutsche Grammophon DG 2531 290, 1977