Das Sterben fand ein schnelles Ende, das Unglück: perfekt. Niemandem war geholfen, keine Frage beantwortet. Alle Fronten verliefen immer noch dort, wo sie vorher scharf gezeichnet gewesen waren. Das hier ist kein Krieg, dachte Kampmann, das ist ein Konflikt unter Kriminellen. Unrühmlich, das Ganze. «Chris, Robert, lasst uns fahren. Hier gibt es weder etwas zu sehen noch zu tun.» Tiefe Trauer umflorte ihn und zwang ihn zu mehr Gegenwart, während schon die Carabinieri und die Ambulanzen in großer Kolonne anrückten. Die Vergangenheit wurde übermächtig. Er müsste Büttner das alles erzählen. Wenn er ihn denn endlich wiederfände.
Was nur war das? Liebe? Mirabella Claussen war das. Und das ist der Deckname von Princess Margaret, die perfekt Deutsch schreibt und spricht. Es kann ja durchaus sein, dass demnächst in Volterra Licht in die Sache kommt, jetzt aber wurde Kampmann zusammen mit den Pirsigs leider Zeuge, wie sie, Margaret, seine Ex und bestimmt immer noch geliebt von Kampmann, mit ihren Hairy-Armpit-Ridern den Chauvinistenhaufen der Fascisti Rotolanti niedermetzelte. Aber zu welchem Preis? Leid war er es. Bei aller Faszination, aber das war des Guten zu viel. Er hatte das Mäandern satt, er hatte die Gewalt satt. Er wollte einfach nur seinem Job nachgehen und? Tja, was war sein Job? Was war es anderes als das ewige Suchen nach Verschwundenen. Und die gerieten oft in gewaltsame Umstände. Hier war zwar alles anders, weil er ursprünglich Büttner suchte, die Zeitnazis fand und dann alles wieder in heilloser Gewalt mündete, der er sich längst entledigt zu haben glaubte, seit er aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs durch Dresslers großzügige Hilfe entkommen war. Und dann Bröno. Und nun dies. Maurizio hatte ihm stets angedroht, dass er nicht vor sich entkäme. Er könne den Planeten nicht in eine andere Richtung drehen lassen. Daher wären auch die Menschen immer nur so verdreht, wie es die kosmische Richtung oktroyierte. Und was sollte er nun tun? Mirabella war weitergefahren, ohne auf ihn zu achten. Er rief sich die schöne Zeit in London zurück ins Gedächtnis, aber müde, wie er war, ging hier gar nichts mehr.
Ist der Fortschritt angesichts menschengemachter Gewalt und Umweltveränderung nur Hohn? In jedem Fall werde er, glaubt man dem Psychoanalytiker Jacques-Alain Miller, von den Menschen der Gegenwart als solcher empfunden. Die Ursache für dieses Empfinden läge in der unaufhörlichen Realisation, dass «all unsere ästhetisch ansprechenden Konsumartefakte» auf den Müllhalden der westlichen Zivilisation landeten. Was geschieht mit den Dingen in dieser Welt? Und was geschieht mit den Toten?
Fragt man in dieser Weise nach dem Menschlichen und auch nach dem uns umgebenden Material, so schwebt dem Fragenden eine einfache romantisierende Auffassung von der Umwelt und vom Jenseits wie Diesseits vor. Was Bestand hat und über lange Zeit erhalten bleibt, was sich «warten» lässt, was reparabel ist, aber auch, was mit Ereignissen, Tätigkeiten, Erlebnissen verbunden ist, das ist ein Gut, ein gutes Ding. Darüber kann Bob berichten. Der Psychoanalytiker hingegen behauptet, der heutige Mensch beklage larmoyant das Verschwinden dieser guten Dinge und den materiellen Gedächtnisverlust der Zeitläufte, in denen Kunststoffspielzeuge Eintagsfliegen sind, die kaum von Geschwistern wiederbelebt werden können, weil sie längst Schrott sind. Und so behandeln manche auch das Fleisch ihrer Nächsten. Mit Tod und Mord und Verbrechen. Der Fluss der Waren, die Ströme der Kommunikation, die Wege des Erinnerns, die Flüsse des Bluts fänden demzufolge keine Staumauern der Erinnerung in Sprache und versickerten in grund- und formlosem Schlick, anstatt in einem Bett dahin zu gehen, Uferzonen zu bilden, um schließlich irgendwo bedeutungsvoll zu münden oder bis ins Unendliche weiter zu fließen. Aber so ist es mit dem Mord und dem Vergessenwerden.
Jedoch gibt es trotz aller Schnelllebigkeit und stetig steigenden Brutalität die Möglichkeit zur Behauptung einer Resistenz der Dinge vor der Vermüllung und der Vermüllung von Körpern als Müll und Seelen als Wahnsinn. Es muss nur eine Form gefunden werden, die jenen Artefakten menschlicher Betriebsamkeit zum Zuhause werden kann. Und das ist die Menschlichkeit, und es braucht keine sentimentale Hirtenfolklore oder Einsiedelprosa. Hierzu wurde das Museum erfunden, das aber wegen seiner Strukturen einem Friedhof in Datenbankformat gleicht. Friedhof und Museum: Leichen und Dinge, die ausgemistet und fortgemüllt wurden. Grund ist keinesfalls die anonymisierte Präsenz der Dinge. Denn: ein Schild, ein Name, vielleicht noch das Porträt des Urhebers im Begleitbuch. Das sind zwar Abstrakta. Aber sie bringen und bergen Spuren zu den Vergangenen, ob Ding, ob Gemälde, ob Haustier, ob Mensch: Die wirklichen Zuschreibungen finden erst im Gebrauch jener Dinge ihre Erfüllung als extensivierte Eigenschaften des Selbst, und diese altern erst dann in Würde, wenn sie in die Hand genommen werden und per mündlicher Erzählung Bericht erstattet wird. Aber die Dinge müssen in Würde behandelt und verwahrt werden. Genauso sollten wir mit Erinnerungen umgehen. Selbst mit denen unserer Feinde. Denn wenn die Erinnerungen finster sind, muss man die Finsternis ins Gedächtnis rufen.
Das ist die Gerechtigkeit des Gedenkens. Die Fascisti Rotolanti erreichen niemals den Ort der Gerechtigkeit, denn sie sind weder gerecht noch möchten sie gerecht sein, aber dennoch sind sie kein Ding, sie sind Verbrecher und vielleicht mehr als das. Deshalb werden sie ihren Status als genozidal veranlagte Wahntäter, die rational und bei vollem Bewusstsein strukturierte und kalkulierte Verachtung in die Welt bringen, niemals loswerden. Doch all das Charakteristische dieser kriegstreibenden Schergen rechtfertigt nicht die Hinrichtung auf jene martialische Weise, wie sie Princess Margret mit den Hairy Armpits vollzog.
Hier sind Dinge zu sehen, aber die Sicht darauf ist eingeschränkt durch einen Verhau aus widerlichen Taten. Keiner hat sich etwas zu vergeben, keinem wird vergeben. Die Gnadenlosigkeit ist epochal: Handlanger der Zeitlosigkeit. Es ist tragisch, was unter dem Zeichen des Fortschritts zunächst fragwürdig und die Humanität und die Dinglichkeit verhöhnend erscheint. Der Mensch scheint diesem Alptraum nicht entkommen zu können. Im Kleinen wie im Großen. Das Schlachten geht weiter. Das Ausbluten geht weiter. Und mögen wir noch so weit in unserem Denken kommen: Immer ist ein Bröno zur Stelle, ein Putin ein weiß ich wer, denkt sich Kampmann, der mir nichts dir nichts all die Errungenschaften der Jahrhunderte das Klo hinabzuspülen versteht. The end of the world as we know it is the beginning of a realistic story how human behaviour should be judged. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Kim Kashkashian, Neharót, ECM Records (ECM 2065), ECM New Series (476 3281), 2009