Ich sitze unterm Tisch. Ich weiß nicht, wie alt ich bin. Auch weiß ich nicht, seit wann ich da sitze. Wollte ich nicht gerade mit dem Nachbarsmädchen spielen? Wollte mich von der Tischgesellschaft der Erwachsenen absondern. Ist es schon so lange her, dass ich anfing, dort zu sitzen? Ich bin gut im sitzenbleiben. Aber lieber ging ich meines Weges.
Jetzt hat mich der Nachrichtenstrom unter den Tisch getrieben. Oder hält der Strom mich unter dem Tisch fest? Bin ich nicht eher in einem dunklen, feuchten Verlies?
Ein Licht zieht meine Aufmerksamkeit an. Es ist nicht die Aufmerksamkeit. Es ist auch nicht das in den Bann ziehen. Es ist ein Gefangensein.
Ich lege Polaroids aneinander. Imitiere den Nachrichten- und Bilderstrom. Denke mir zu jedem Bild einen kleinen Text aus. Das mache ich gerne. Wenn ich unter dem Tisch sitze und Bilder anschaue.
Ich weiß nicht mehr, woher ich die Polaroids habe. Ich weiß nicht, ob sie je existiert haben. So zum Anfassen meine ich. Ich habe sie aus dem Twitter-Strom gefischt. Denke ich. Wissen tue ich es nicht mehr. Wissen es die Menschen im Twitter-Strom? Wisst ihr es?
Da sitze ich. Unter dem Tisch. Denke mir Geschichten aus. Kann mich schon kaum an die erste erinnern. Schon verschwindet sie, wie die nächste, aus meinem Gedächtnis. Schon schreibe ich die nächste zum nächsten Bild, die ich einfach so, wirklich einfach so, unterm Tisch finde. Die Geschichten. Die News. Die Nachrichten. Die Informationen. Die Daten.
Oder lagen die Polaroids alle in dem Schuhkarton, oben auf dem Speicher? Habe ich sie dort her? Ich habe mich schon einmal gefragt, woher die Bilder kommen. Keiner konnte es mir je beantworten. Nur, dass es immer schon Bilder gegeben hat.
Das aber ist nebensächlich. Vorerst beschäftigt mich, warum ich unter diesem Tisch sitze.
Krieg sei, hat man mir gesagt. Und wenn Krieg ist, dann machen wir mit. Ich wäre jetzt lieber drüben in der Gaststube. Gaststube. Wie schön sich das anhört. Ist es nicht eher eine Kaschemme, in der ich Abend für Abend Gast war. Gehörte ich nicht schon zum Inventar? Habe ich nicht gerne dort getrunken. Dort, am Tresen. Zumeist saß ich auf einem Barhocker. Manchmal lässig angelehnt. Am Tresen. Ich erinnere mich ganz genau.
Oft zählte ich die Biere, die ich trank. Bis ich wusste, wann der Übergang vom Trinken zum Rausch einsetzte. Früher machte ich das am Lallen fest. Doch schon lange rede ich nicht mehr, wenn ich trinke. Wozu auch. Ich sitze dort nicht, um zu reden. Ich trinke.
Jetzt sitze ich unterm Tisch und richte mich gemütlich ein. Mit Decken habe ich den Tisch umwickelt und nur eine winzige Öffnung gelassen. Falls ich das Bedürfnis habe herauszuschauen. Es könnte auch jemand hineinschauen. Das wird nicht passieren, denke ich. Ich bin ja alleine.
Aber eigentlich, welch eigenartige Formulierung, aber eigentlich. Aber eigentlich wollen wir nur Gutes, sagen die Menschen oft. Aber eigentlich will ich nur Dein bestes, sagen die Mütter, sagen die Väter, sagen die Chefs.
Also, eigentlich war ich mit dem Nachrichten-Bilderstrom, den ich erzeuge, beschäftigt. Wo kommen die Nachrichten her? Wo kommen die Bilder her? Wer induziert mich? Wen induziere ich?
Ich fühle mich hundertjährig. Das gibt mir eine Ahnung, wie lange ich schon unter diesem Tisch sitze und diese Polaroids anstarre. Sie tauchen auf, beschäftigen mich, verschwinden, tauchen auf, beschäftigen mich, verschwinden wieder.
Andere sagen, ich sitze gar nicht unter dem Tisch. Andere sagen, ich habe die Bilder gestohlen.
Ich will die Bilder ja nicht besitzen. Ich besitze sie nun einmal. Sie liegen da vor mir und reihen sich aneinander. Und ich bin es, der die Reihenfolge verändert. Verändern kann. Alles kann so einfach sein. Haben sie gesagt. Habe ich gedacht. Jetzt denke ich nicht mehr. Die Bilder habe ich gestohlen.
Eins der Bilder zeigt eine Frau mit Maiskolben. Ein schönes Bild. Ein anderes zeigt Zerstörung. Warum? Warum nicht?
Was immer ist, ich gehe zur Arbeit. Keiner hört mir zu. Ich habe nichts zu sagen. Zu sagen habe ich schon etwas, aber nichts habe ich zum Mitteilen. Es hört ja auch keiner zu. Die Tische sind verlassen. Allein ich bin zu sehen. Auf dem großen Bildschirm. Oder bin ich es, der auf den Bildschirm starrt?
Ein Panzer bleibt an einem Poller hängen. Ich erinnere mich noch genau an das schreiende Metall. Es hat doch geschrien?
Eine Demo zieht am Haus vorbei. Sie haben Pappschilder mit Forderungen. Wollte ich wirklich Energie statt Demokratie?
Ein kleiner Lastwagen fährt am Haus vorbei.
Dann ist der Krieg vorbei.
Dann fängt der Krieg an.
Dann ist der Krieg vorbei.
Dann fängt der Krieg an.
Dann ist der Krieg vorbei.
Dann fängt der Krieg an.
Draußen ist es kalt. Schröder versendet Postkarten. Die Postkarten zeigen brennende Häuser. Krieg. Es ist ein fossiler Krieg, sagen die Freitagskinder. Wie lieblich das klingt. Fossil. Krieg.
Dann sage ich, das ist mir egal. Sage ich. Mir ist egal, ob fossil, atomar, oder Wasserstoff.
Ich beiße in den Apfel, trinke aus der Flasche, leere den Becher.
Ich sitze unter dem Tisch und denke mir Geschichten aus. Wie ich drüben in der Kaschemme, oder ist es doch eine Gaststube?
Wie ich trinke. Und trinke. Viele Biere und die Welt ein Rausch wird.
Nebenan sitzt J. und überlegt, ob er einen Buchtitel erfinden kann, der noch kürzer ist als ZU. Er radelt ans Kapp. Dort wird er fündig werden.
Warum fragt er nicht mich? Warum fragt er mich nicht? Ich habe doch den Titel für ihn. Ich habe ihn. Hier, vor mir steht er:
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Nachtrag: Alle Bilder wurden aus dem Twitter-Strom gefischt, abfotografiert und verfremdet. Die Autorinnen und Autoren der Originale sind bei diesem Vorgang verlorengegangen. Wir bitten um Verständnis. Wenn Sie Bilder aus dieser Story verwenden wollen, dann denken Sie daran, dass der Autor der Story nicht der Rechteinhaber der Bilder ist.