Schnell wachsende Füße

Mein Name ist Holger Karsch. Ich arbeite als Metteur bei einem Verlag in Nordfrankreich. Dort habe ich Jacques kennen gelernt. Das war nach der Arbeit, wenn ich nach Druckfarbe und Öl stinkend im Bistro auf der anderen Straßenseite ein Bier mit ihm trinken musste. Ist Jahre her. Bin schon sehr lange hier. Die lieben mich, obwohl ich ein dämlicher Boche bin. Der junge Jacques hatte das Aussehen eines Ch’ti. Ein picardischer Hüne. Rote Haare, wasserblaue Augen, schlaksig. Es gibt gerade in den Jahren der Berufsausbildung, wenn man noch keine zwanzig Jahre alt ist, eine Erscheinung an Männern, die ihre Selbstvergessenheit ausdrückt und ihnen bisweilen dann die Charakterisierung ‹dümmlich› einträgt. Verklärung ist nun einmal nicht immer in der Art von Anmut und Eleganz in der Welt, wie es die ätherischen Blicke der androgynen Damen in den Gemälden eines Dante Gabriel Rossetti propagieren. Der Intelligence Service des Erwachsenseins hat noch keine Kontrolle über die Gesichtszüge; das blanke Älterwerden zeigt längst nicht die Spuren erlebten Ärgers, Leids, kommender, herbeigesehnter oder versiegter, versiegender Freuden und Verzückungen. Mangelnde Cleverness konnte niemand dem Jacques de Lyon vorwerfen. Er war zwar zu keiner Zeit Klassenprimus, doch im oberen Mittelfeld hatte er seinen Platz zweifelsohne mit Verdienst erwirkt und über alle Schuljahre behauptet. Ein echter Dude war auch er. Und als ihm nicht zuletzt angesichts seiner viel zu schnell wachsenden Füße und der Aufenthalte in der halbdämmerigen Werkstatt des Schusters ums Eck, mit ihrer betörenden Melange olfaktorischer Genüsse aus Leder, Leim und Staub, bewusst wurde, dass er zum Schuhmacher geboren war, strebte er, der aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie stammte, Möglichkeiten und Reichweiten aufgrund kaum jemals versiegender finanzieller Quellen zuhauf zu Füßen gelegt bekam, niemals etwas anderes an, als sich mit der gesamten Kraft seiner Fähigkeiten dem optimalen Gehwerkzeug für jeden denkbaren Fuß anzunähern, nein, dieses außerdem zu realisieren gedachte.