Planetenwege aus dem metalabor

Büttner stand nahe dem Neptun des Planetenwegs Runkel und dachte an Kürbisse, an die Sonne als Kürbis, warum auch nicht, hatte Irgendlink gesagt im metalabor zehn, und dann war da dieser Moment gewesen, dieser eine verrückte Moment nach Göbels Sonderprogramm wo er rückwärts gegangen war einen ganzen Tag lang und dabei die Welt anders gesehen hatte, von hinten sozusagen, und plötzlich verstand er was Planetenwege bedeuteten, diese Verkleinerung des Universums auf Doppelschrittlänge, diese Demokratisierung der Astronomie für Wanderer und Träumer und Verrückte wie ihn.
Die Liste in seiner Hosentasche. Zehn Dinge, die er brauchte: Tischtennisbälle für Planeten, Schuhe als Markierungen, Kreise aus Pappe, ein Maßband, Brot, Käse, Wasser, Kampmanns Koordinaten-Verschleierungsgerät, Göbels Lausch-Training im Kopf, und diese eine brennende Idee – erst einmal den Planetenweg Null anzulegen, 2200 Doppelschritte vom metalabor zehn bis hier zum Neptun, der Anfang aller Anfänge.
Er blickte zurück. 2200 Doppelschritte. Das war der erste Planetenweg überhaupt, den er schaffen würde, nach Irgendlinks Anleitung aber mit seiner eigenen Vision, nicht einer der bestehenden, sondern Planetenweg Null, die Urverbindung, das Urmuster nach dem alle anderen sich richten würden, genau wie Irgendlink es in seinem geheimen Film vorausgesagt hatte: dass jeder der den Mut hat kann das Universum neu vermessen, kann seine eigenen Planetenwege schaffen, kann die Welt zu einem begehbaren Sonnensystem machen – und der Cheffotograf und Redakteur der „nudeK“ war von Anfang an dabei gewesen, hatte sich ihm angeschlossen um das ganze Projekt zu dokumentieren, Doppelschritt für Doppelschritt.
Er ging los.
Der erste Doppelschritt war immer der schwerste, aber dann kam der zweite und der dritte und schon war er in diesem Rhythmus, diesem Jazz-Rhythmus des Gehens, links-rechts als ein Doppelschritt, und in seinem Kopf formte sich die Berechnung: wie teile ich 2200 Doppelschritte auf neun Planeten auf, wo setze ich Merkur, wo Venus – Q. hatte im metalabor zehn über autarke Kommunen an jedem Venus-Punkt fantasiert, hatte über erfolgreiche Autarkie-Projekte referiert, insbesondere über sein Selbstexperiment mit 20 Gleichgesinnten ein Wochenende in einem Tinyhaus zu überleben, bei Dauerregen und Nässe, während der große Philosoph R., scharfer Kritiker aller Autarkie-Schmonzetten, jedem Abweichen von Kants Imperativ Totalitarismus vorwarf – wo die Erde, wo kommt Jupiter hin und Saturn und Uranus, und dann hier am Ende Neptun wo er jetzt stand und rückblickte auf den Weg zum metalabor zehn.
„Wie weit bis zur Sonne?“ hatte ein Kind ihn gefragt, und er hatte gesagt: „Einen Doppelschritt von hier“, und das Kind hatte gelacht und verstanden, weil Kinder verstehen was Erwachsene vergessen haben, dass das Universum überall ist, in jedem Doppelschritt, in jeder Bewegung, in der Art wie Licht durch Blätter fällt und Schatten auf Asphalt malt, und dann hatte er dem Kind einen kleinen Kürbis geschenkt, damit es immer die Sonne bei sich hat, die Sonne als Ausgangspunkt eines jeden Planetenwegs, als Zentrum aller Bewegung, aller Träume, aller Doppelschritte durch das Universum.
Dinge, die er sah: Autobahnen wie Milchstraßen. Rastplätze wie Raumstationen. LKW-Fahrer als Astronauten ihrer eigenen einsamen Umlaufbahnen.
Dinge, die er hörte: Wind in Telefonleitungen klingt wie kosmische Hintergrundstrahlung. Vögel wie Funksignale aus fremden Galaxien. Seine eigenen Doppelschritte wie Herzschlag eines wandernden Planeten.
Dinge, die er fühlte: Erdkrümmung unter den Füßen. Schwerkraft als ständiger Begleiter. Die Rotation der Erde als leichtes Schwindelgefühl bei längeren Pausen.
Er war ein romantischer Weltbürger auf der Suche nach der ersten Linie, dem Planetenweg Null, der Urverbindung zwischen metalabor zehn und diesem Neptun hier, 2200 Doppelschritte reine Mathematik und reine Poesie zugleich, eine echte Doppelschrittologie für Träumer und Spinner, und wenn er das schaffte, diesen ersten, dann würde er alle anderen Planetenwege der Welt verbinden, eine große Linie aus Doppelschritten quer durch Europa und irgendwann durch die ganze Welt – Maga schüttelte den Kopf über die Kindsköpfe, schmunzelte und ließ sie sein wie sie waren, während Homan mitschmunzelte, weil er, der große Radiomacher, Künstler und Berufs-Bayer, machte statt schwatzte, und er begleitete Büttner bis er spontan auf einen Güterzug aufsprang und verschwand.
Abends setzte er sich hin. Packte seine Sachen aus.
Das Kampmann-Gerät blinkte. Niemand würde ihn finden, aber alle würden seine Spuren sehen, seinen neuen Planetenweg Null, seine Verbindung zwischen metalabor zehn und Neptun, seine 2200 Doppelschritte als Grundlage für alles was kommen würde.
Er aß Brot. Trank Wasser. Lauschte.
Ein Käfer krabbelte vorbei. Ein Regenwurm hustete. Die Sterne kamen heraus, einer nach dem anderen, wie Taschenlampen in einem riesigen dunklen Zelt, und Büttner dachte: morgen berechne ich sie neu. Doppelschritt für Doppelschritt. Planet für Planet. Der erste Planetenweg überhaupt.
Er schlief ein mit dem Geräusch des Universums in den Ohren, diesem leisen Jazz-Rhythmus der sich drehenden Himmelskörper, und träumte von Kürbissen, die zu Sonnen wurden, und von Wegen, die alle Wege verbanden, und von 2200 Doppelschritten, die der Anfang von allem sein würden.
Büttner stand am Neptun des Planetenwegs Runkel. 2200 Doppelschritte zurück lag das metalabor zehn. Dazwischen: der erste Planetenweg, den er schaffen würde. Planetenweg Null. Der Anfang aller Anfänge.
Er war erst am Anfang.