Wenn der velozipede Drache fällt

Retroaufnahme eines Kosmonautenanzugs. Grünlicher Grundton. Der Anzug steht aufrecht leicht nach rechts geneigt. Hinterm verspiegelnden Helm ist kein Gesicht erkennbar. Das bild hat einen teils vergilbten Vintage-Rahmen
Vintage Kunstwerk aus shop.irgendlink.de, 4. Januar 2022.

Erstveröffentlicht auf https://write.fimidi.com/lindkernig/ (Zukunftsroman der feinen Künste von Lind Kernig).

Ich bin unentschlossen, ob ich die Erzählung dieser Geschichte mit meiner Geburt beginnen soll oder mit meinem Tod. Beide Ereignisse meines kurzen Lebens weisen frappierende Ähnlichkeiten auf. Schmerz, Zuckungen, Kälte, Wellen, Wehen, Angst, Kommen und Gehen. Sowohl mein Tod, als auch die Geburt waren die Phasen intensivsten Gefühls, die ich je erlebte. Alles was dazwischen lag, der Lebensweg, wie man es nennt, erreichte nie die Höhen und Tiefen, die sich in den ersten Minuten des Auftauchens auf dieser Welt und in den kurzen Minuten des Verschwindens ereigneten.
Vielleicht sollte ich eine Münze werfen. Den alten velozipeden Silberdrachen, den meine Großmutter mir vererbt hatte und den sie als einen der wenigen Gegenstände von der Erde mitnehmen konnte? Meine Großmutter war eine gütige und besonnene Frau. Man könnte meinen, dass sie eine Kostbarkeit wie den Silberdrachen ganz besonders hüten würde und die Münze nie und nimmer aus den Händen geben würde. Insbesondere nicht solch umhertollenden Wesen wie uns Kindern, die damit achtlos spielen und den Wert des Gegenstands nicht einschätzen können.
Mit dem Wurf des Silberdrachens pflegte meine Großmutter Entscheidungen zu treffen. Jene Art von Entscheidungen, bei denen es keine vernünftige Lösung gab und bei denen es somit egal war, ob die Entscheidung so oder so ausfiel. Entscheidungen, bei denen es nur wichtig ist, dass sie fallen.
Der Umriss eines irdischen Landes namens China war auf der einen Seite der Münze abgebildet und innerhalb des Umrisses befand sich ein zweiter Umriss, der dem ersten Umriss ähnelte, ihn an manchen Stellem schnitt und über ihn hinaus ragte. Innerhalb der beiden Linien war das Gesicht eines Menschen abgebildet. Eine junge Frau im Halbprofil. Die andere Seite zeigte einen Drachen und ein mechanisches Gerät, das auf der Erde vor einigen Jahrhunderten als Fortbewegungsmittel diente. Ein Veloziped, oder auch Fahrrad genannt. Das Veloziped hatte zwei Räder und einen Mechanismus, mit dem man es antreiben konnte, sowie einen weiteren Mechanismus, mit dem man es lenken konnte. Der Drache schien das Veloziped verschlingen zu wollen. Ich hatte Angst vor dieser Seite der Münze. Trotzdem wählte ich für alle meine Entscheidungen zweiter Ordnung stets das Veloziped mit Drachen. Entscheidungen erster Ordnung traf man natürlich grundsätzlich selbst und nach den zu Grunde liegenden Fakten. Die Münze oder andere Zufallsinstrumente kamen nur dann zum Einsatz, wenn keine Entscheidung auf Basis von Fakten möglich war. Wenn also die Möglichkeiten gleichwertig nebeneinander standen und es mit Vernunft nicht mehr weiter ging. Dann, nur dann, durfte, nein, musste der Zufall entscheiden.
Das erste Mal, dass ich die Münze werfen durfte waren wir noch auf der Erde. Ein unheimlich heißes Jahr, in dem die Vögel tot vom Himmel fielen, weil sie in der Luft bei lebendigem Leib gekocht wurden. Ich erinnere mich nicht mehr, was entschieden werden musste. Entscheidungen zweiter Ordnung haben es so an sich, dass ihnen zu Grunde meist nur Banalitäten liegen. Trotzdem müssen sie fallen. Wenn Entscheidungen nicht fallen, herrscht Stillstand. Zähes Nichts. Es tut niemandem gut, wenn zähes Nichts herrscht, pflegte Großmutter zu sagen. Im zähen Nichts hätte wohl niemand von unserer Familie überlebt uund ich wäre nicht hier.
Wie der velozipede Drache in der heißen Luft flimmerte und sich drehte, daran erinnere ich mich und an das harte Geräusch, als er mit einer Beschleunigung von fast zehn Metern pro Quadratsekunde auf den Boden fiel. Metall auf Stein in komprimierter, den Laut gut leitender Atmosphäre.
Ich vermisse die Erde. Sie ist, obwohl ich nur meine ersten Lebensjahre dort verbracht habe, nun mal meine Heimat. Man sagt, dass der Ort, an dem man aufwächst als Mensch, der Ort, an dem man seine ersten Lebensjahre verbringt, laufen, sehen und fühlen lernt, einen für immer prägt und dass er einen überall hin begleitet, selbst an die entferntesten Orte des Universums. Sogar über den Tod hinaus. Stimmt!
Nachdem wir die Erde verlassen mussten warfen wir den velozipeden Drachen nur noch selten. Die Entscheidungen, die getroffen werden mussten, waren nicht mehr so spielerisch, sondern vielmehr stets von existenzieller Bedeutung und die zu Grunde liegenden Parameter meist so klar, dass sie immer eindeutig auf Basis der Vernunft gefällt werden konnten, gefällt werden mussten. Zumal die Münze wegen der geänderten Schwerkraftverhältnisse nie wieder so fallen würde, wie einst auf der Erde.
Geburt oder Tod? Anfang oder Ende, velozipeder Drache oder Umrisslinie mit Dame? Ha! Als ob es bei Entscheidungen immer nur zwei Möglichkeiten gibt. Ja oder nein, eins oder null, Transistor geschaltet oder nicht. Man sollte die Rechnung nie ohne die Wolke des Ungewussten machen. The Cloud of Unknowing. Einer Theorie zu Folge, das las ich einmal, stehen hinter jeder Eindeutigkeit weitere Entscheidungen, die sich in Uneindeutigkeiten gliedern, aus denen widerum Eindeutigkeiten hervor gehen, die sich zergliedern lassen. Somit wird aus einem eindeutigen Ja recht schnell ein spaltbares Produkt, das sich in ein Ja und ein Nein aufschließen lässt und so weiter und so fort. Bis in alle Ewigkeit. Meine Freundin Karla meint, genau darin liege das Geheimnis des Lebens. In den immer unklaren Aussagen und Entscheidungen, die wir tätigen, die wir treffen. Wir befeuern damit unser eigenes Dasein und uns wird, falsch, uns wurde nur deshalb nie langweilig, weil es in jedem nur ach so vermeintlichen Ende weitere Verästelungen gibt, die sich wie eine selbsttätige Gebärmaschine wieder und wieder aufspleisen. Nie hat ein Mensch das Ende aller Entscheidungen getroffen. Und dass wir, Karla und ich und all die anderen noch immer existieren und uns äußern können, obwohl wir doch im eigentlichen Sinn des Lebens gar nicht mehr leben, das verdanken wir der Tatsache, dass aus einer Entscheidung zwischen Ja und Nein eben nicht nur Ja und Nein hervor gehen, sondern dass es noch mindestens eine weitere, eine okkulte Möglichkeit gibt, die wir nur nicht wahrnehmen.
Der velozipede Drache hat auch einen Rand, auf den er fallen könnte. Das ist zwar an Unmöglichkeit grenzend unwahrscheinlich, so zumindest lehrte man es auf der Erde: Eine Münze fällt immer auf die eine oder andere Seite, egal wie sehr man sich anstrengt. Das ist uraltes irdisches Wissen. Man hatte diesbezüglich einst sogar höchst seriöse Versuche angestellt. Münzwurfmaschinen, die über mehrere Jahre einen Münzwurf am anderen ausführten und nie, nie, nie bei aber Millionen Würfen blieb auch nur eine der Münzen auf dem Rand stehen.
Dass eine Münze trotzdem auf dem Rand landen kann und dass nicht immer und überall irdische Bedingungen herrschen, musste ich kurz nach meiner Einschulung erfahren. Jedoch fiel diese Münze nicht auf der Erde.
Hals über Kopf musste unsere Familie den Planeten verlassen. Nur wenigen tausend Bewohnern des Planeten gelang die Flucht. Und nein, nicht der velozipede Drache entschied, ob und wie wir fliehen, es waren Privilegien, Glück, günstige Umstände. Mit ein paar Hand voll Menschen waren wir die letzten, die im Moonelevator lebend bis zum Spacelink gelangten und von dort zur Mondbasis evakuiert wurden.
Ich lenke ab. Ob ich mit meiner Geburt oder mit meinem Tod beginne, diese Geschichte zu erzählen, fragte ich mich zu Beginn. Nun, mit einigem Humor muss ich gestehen, weder noch. Der velozipede Drache ist wohl diese Mal auf dem Rand gelandet. Und um ehrlich zu sein, es wäre mir ohnehin nicht möglich gewesen, den Drachen zu werfen.
Ich habe keinen Körper, keine Hände, kein Münzwurf, keine Entscheidung zweiter Ordnung.